Herr Poth, als Unternehmer immer darauf bedacht, das Lob, das er bei seinen Mitarbeitern als Motivation regelmässig verteilte, ohne dass ihm solches in Managementschulungen als günstige Art der Produktivitätssteigerung beigebracht worden wäre, nicht so ausgiebig einzusetzen, dass diese noch auf den Gedanken kämen, sie seien unersetzlich oder sollten daraus den Vorteil einer Gehaltserhöhung ziehen, lenkte doch bald die Aufmerksamtkeit auf den dem Föhn geschuldeten Blick von der Terasse auf den See und die Berge mit allerdings mitfühlendem Seitenblick auf seine Gattin: „ Ich weiss, der Föhn bereitet Dir Kopfschmerzen, während er meine ästhetischen Genüsse befriedigt. Unser Pater würde sagen, das ist die Dialektik des Lebens, was dem einen erfreut, ist der Schaden des anderen.Sollten wir uns wünschen, es gäbe keinen Föhn und wir müssten auf diese Blicke - wahre Naturschönheit - verzichten, aber andere kämen um körperliche Beschwerden herum. Was meinen Sie mein lieber Jakob?“ Jakob Müller, der Jesuitenpater, griff das Thema auf, das wir nicht weiter verfolgen wollen, während Frau Poth sich der Köchin Anni annahm und sie aufforderte, sich an den Tisch zu setzen. Sie wollten die Speisefolge der nächsten Woche besprechen.
Paul und ich lauschten, wie so oft, dem Gespräch der Herren und obwohl erst achtjährig prägte sich uns doch vieles ein und wir diskutierten Jahre später manchmal über das Gesagte als doch typisch für Auffassungen, die kritisch zu hinterfragen wir uns angelegen sein liessen.
Auch jetzt als ich Paul fast 50 Jahre später gegenübersass und wir begannen, wenn auch aus traurigem Anlass, sein Leben zu resümieren, war sein erster Gedanke:„Wenn ich zurückdenke in die fünfziger Jahre …“
3
Wäre dies der richtige Beginn?:
Im Frühjahr 2007 gestand mir mein Freund Paul Poth,
mit dem ich als Kind Räuber und Gendarm gespielt,
mit dem ich als Schüler und Student gemeinsam „Ho Ho Ho Tschi Minh “ auf Demonstrationen, die für uns doch eher „Happenings“ waren, skandiert,
mit dem ich zusammen in Harvard einen amerikanischen akademischen Abschluss erlangt hatte,
für dessen erstes Kind ich Pate gestanden,
dessen gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen ich juristisch begleitet habe,
und dessen Firmenverkauf und damit die Möglichkeit für sich, seine Frau und künftige Generationen, sofern diese die Vermögensverwaltung massvoll und klug vornehmen liessen, ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben zu führen, ich durchgeführt hatte,
dass dank eines Gehirntumors sein Leben sich mit nun 57 Jahren demnächst beschliessen werde. Da es ungewiss sei, wie lange seine geistigen Fähigkeiten noch vorhanden wären oder wie bald körperliche Unzulänglickeiten alle auch geistige Aufmerksamkeiten benötigten, bat er mich, ihm sobald als möglich ,wenn nicht täglich, so doch des öfteren in der Woche für bis zu drei Stunden zur Verfügung zu stehen. Er wolle sein Leben resümieren. Ich sei sein ältester und einer seiner wenigen wahren Freunde. Unser Vertrauensverhältnis gewährleiste, dass Mitteilungen, Gedanken, geäusserte Gefühle nicht dem Markt der Eitelkeiten und Geschwätzigkeit dargebracht werden. Es ginge nicht um eine Biographie und eine Darstellung für Nachgeborene. Er wolle nur mit sich selbst ins Reine kommen. Dazu sei das Gespräch – wie ja die Therapie wisse – ein geeignetes Mittel und besser als das Selbstgespräch, zumal wir selbst ja gemeinsam zahlreiche Diskussionen und Gespräche in allen Lebenszeiten und Lebenslagen hinter uns hätten.
Ich sagte selbstverständlich zu .Wir verabredeten uns für die zu vereinbarenden Tage von fünf bis acht Uhr abends in meinen Kanzleiräumen in der Briennerstrasse. Ich könnte für den
völlig störungsfreien Ablauf garantieren. Ich liess meine Termine umlegen oder sorgte für
Vertretung und wir begannen unsere Treffen drei Tage nach der Mitteilung der tödlichen Krankheit.
4
Denkbar wäre auch folgender Beginn:
Am 6.April 2008, gegen 14 Uhr war es in München so warm wie in früheren Jahren gelegentlich im Juni oder September. Die Menschen, die an den im Freien aufgestellten Tischen des Cafes Münchener Freiheit an dem gleichnamigen Platz in Schwabing sassen oder daran vorbeigingen, hatten sich der dem angeblich schon eingetretenen, obwohl bislang ständig verleugneten Klimawandel geschuldeten Witterung in ihrer Kleidung angepasst. Diese war im Durchschnitt schicker und stilvoller – ein Urteil, das gewiss anmassend ist, denn wer gibt vor, was schick und stilvoll ist? – als diejenige der Menschen in anderen deutschen Städten. Lag das daran, dass München näher an Italien liegt dort, wo die Menschen mehr von Geschmack und Stil verstehen, lag es daran, dass die wiedererstellte Architektur vergangener Jahrhunderte Münchens, die, und das ist wohl fast Konsens, den schnell errichteten und lieblos zusammengestellten Gebäuden in den meisten Städten Deutschlands der Nachkriegszeit vorzuziehen ist, auf Stil und Geschmack der Bewohner abfärbte oder war es einfach eine Frage des Preises, des doch grösseren und breiteren Wohlstandes in München als sagen wir Essen, Dortmund oder Mönchengladbach.
Ich war etwas zu früh, hatte Platz genommen und einen Milchkaffe mit viel Milch - in Wien Verlängerter genannt - bei einer schwarzhaarigen Kellnerin mit eher ostischem Akzent - in Wien wäre es ein Kellner gewesen - als latte macciato bestellt. Immerhin gab es, anders als in Wien mit seinem umfangreichen internationalen Zeitungsangebot, einige Lokalzeitungen zu lesen. Ich entschied mich, da ich die „ Süddeutsche “ ohnehin abboniert hatte, für die „Abendzeitung“ und wurde im meinem schon bestehenden Urteil, das also ein Vorurteil war, erneut bestätigt, dass diese Zeitung in fünf Minuten zu lesen sei, dass, sei es dem Fernsehen, der aufgetretenen Konkurrenz oder der allgemeinen Nivellierung geschuldet, die Zeiten längst vorbei waren, als darin dank Sigi Sommers originellen Geistesblitzen, dank „Hunters“oder später Michael Gräters lokalen Ratschereien, dank witziger Karikaturen und Comics die „Abendzeitung“ einem das Gefühl vermittelte, man könnte stolz darauf sein, als Münchener dazuzugehören. Heute dokumentiert die Abendzeitung Münchener „Möchte gern“- Provinzialität, die wie die schon lang nicht mehr authentischen Statements eines Herrn Hirnbeiss allenfalls die Erinnerung an bessere Zeiten wahrt, während die „Bild“ immerhin vorgeben kann, dem Volk national aufs Maul geschaut zu haben.
Die notwendigen fünf Minuten waren noch nicht abgelaufen, als ich schon meinen Freund Paul, offenbar mich suchend, sah. Er ist circa einen Meter fünfundachtzig gross, hat beginnendes weisses, aber volles noch blondes, links gescheiteltes, kurz geschnittenes Haar, ein ebenmässiges, schönes Gesicht mit grossen blauen Augen, einer geraden Nase und breiten, sinnlichen Lippen. Er ist schlank und trägt eine randlose Brille, die sich dank des Sonnenscheines dunkel eingefärbt hatte.
Ich winkte, er bemerkte mich und setzte sich. “Ich freue mich. Wie geht’s?“
„Beschissen. Ich bin Opfer eines Gehirntumors und habe vielleicht noch drei Monate zu leben. Eine Operation ist nicht möglich .Noch kann ich denken, reden, mich bewegen .Das wird sich jedoch bald ändern. Ich weiss es seit gestern. Doch wollte ich unser Treffen dennoch wahrnehmen.“
5
Eine mögliche Variante zu beginnen, könnte so formuliert werden:
Als Realist war sich Paul Poth klar, dass er gelebt hatte, dass vor ihm eine dem reinen Überlebenswillen geschuldete, an sich sinnlose medizinisch indizierte Prozedur des Hinauszögerns des Todes durch Massnahmen wie Bestrahlung, Chemotherapie und Medikation war. Der verzögerte Exitus sollte sich auch möglichst schmerzfrei einstellen.
Dies war unvermeidlich und letztlich in den jeweiligen Schritten zwar nicht im Detail, aber doch im grossen Ganzen vorherdefiniert. Was Paul Poth aber noch wollte und dies war der