Heidesumpf. Herbert Weyand. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Weyand
Издательство: Bookwire
Серия: KHK Claudia Plum
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847686040
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das sie die letzten Wochen verfolgte. Sie wurde beobachtet. Gab es hier Kameras? Sie ging zum Schrank und fand dort Unterwäsche sowie Kleidung. Sie zog sich an, denn sie wollte nicht irgendwelchen perversen Schweinen als Anschauungsobjekt dienen.

      Wie kam sie hierher? Ihre letzte Erinnerung? …, nein da war nichts. Oder doch? Welchen Tag hatten wir heute? Mittwoch. Sie hielt sich in ihrem Appartement auf und wachte später auf diesem Folterinstrument auf. Und jetzt hier ... in diesem Raum. Aus irgendeinem Grunde sah sie das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes mit markanten Zügen vor ihrem inneren Auge. Unwillkürlich lief ein frostiger Schauer über ihren Körper, als die fast schwarzen brennenden Augen in den Vordergrund traten. Sie sah das Gesicht deutlich vor sich. Sie wollte kotzen.

      Als Susanne das nächste Mal wach wurde, hing sie in dem kleinen Sessel, der in ihrem Appartement stand. Sie trug die gleiche Kleidung, wie … na ja Mittwoch. Welcher Tag war heute? Sie griff nach ihrem Smartphone. Freitag. Hatte sie gesoffen oder gekifft? Der pelzige Geschmack auf der Zunge legte den Verdacht nahe. Es fehlten achtundvierzig Stunden. Nein, sie verbesserte sich. Die Stunden fehlten nicht komplett. Dann war es also tatsächlich geschehen. Sie schaffte es gerade noch zur Toilette und würgte den Mageninhalt heraus.

      Susanne schwänzte vierzehn Tage die Vorlesungen. Vierzehn Tage, in denen sie kotzte, und versuchte, das widerliche Gefühl ihrer Fantasie, in der Vagina, wegzubekommen. In denen sie versuchte, die Gedanken zu kontrollieren, die immer wieder abglitten. In denen sie den Entschluss fasste, nicht zur Polizei zu gehen, weil nichts an ihr auf die Vergewaltigung deutete, außer in ihren Gedanken. Sie leistete einen Schwur: Nie wieder würde ein Mann sie berühren.

      *

      Fünf

      Susanne Treber dachte in den letzten Monaten kaum noch an das Verbrechen. Jetzt, elf Jahre später, wusste sie zwar, dass ihr Leben dadurch eine grundlegende Veränderung erfuhr, jedoch arrangierte sie sich damit. Sie war zu keiner Bindung fähig. Ob es an ihrem Schwur lag? Oder wirkten tatsächlich die Nachwirkungen der Vergewaltigung? Sie wusste es nicht. Die Natur forderte ihr Recht. Der Drang nach einem Mann wurde häufiger und intensiver. Fast schon schmerzhaft. Doch immer, wenn es ernst wurde, machte sie einen Rückzieher. Die Frauen, mit denen sie im Bett ihre Bedürfnisse kompensierte, gaben ihr eine gewisse Entspannung. Jedoch nicht den prickelnden Reiz, den sie erwartete. Ähnlich wie, wenn sie sich selbst befriedigte. Dabei wusste sie nicht, ob das Zusammensein mit einem Mann ihre Fantasien erfüllte ... wusste nicht, ob alle Männer so menschenverachtend wie ihre Peiniger agierten. Sie hätte vielleicht doch damals zur Polizei gehen sollen, um professionelle Hilfe eines Psychiaters zu bekommen. Aber hätte und wäre brachte sie nicht weiter.

      Nach außen wirkte Susanne wie der Prototyp einer selbstbewussten Frau, die ihren Weg in der Gesellschaft machte. Nach dem Abschluss des Studiums in Bauphysik, vor einigen Jahren, wurde sie Teilhaberin in einem renommierten Architekturbüro. Sie beschäftigte ausschließlich Mitarbeiterinnen. Schon genug, dass sie sich ihre Kunden nicht backen konnte. Doch sie lernte mit der Zeit, anzügliche Bemerkungen auf den Baustellen, zu ignorieren. An besonders schlechten Tag sorgte sie für die Entlassung der betreffenden Personen.

      Susanne änderte nach der Vergewaltigung ihren Typ von Grund auf. Die Zöpfe gaben ihr damals zu denken. Allein aufgrund ihres Aussehens wurde sie ausgewählt. Da wusste sie sicher. Deutsch, deutscher, am deutschesten. Sie ließ ihre Haare abschneiden und dunkel einfärben. Sie veränderte die Schminktechnik und kaufte eine Sonnenbank. Heraus kam ein fremder Mensch, dessen Abbild sie bis heute beibehielt. Sie drängte das alte Ich in den hintersten Winkel ihres Seins.

      Dann kam der Tag, der ihr Leben noch einmal von Grund auf änderte und alles über den Haufen warf, das sie mühsam während der letzten Jahre aufbaute. Sie sah den Mann wieder, dessen Gesicht durch ihr Unterbewusstsein geisterte.

      Sie saß vor dem Elisenbrunnen auf einer Treppenstufe und las in einer Zeitschrift, als ein unbewusster Impuls sie hochschauen ließ. Das Blut gefror in ihren Adern. Der stechende Blick glitt über sie hinweg und verharrte auf einer jungen Frau. Weizenblonde Haare, ungefähr eins fünfundsiebzig groß und blaue Augen. Um die zwanzig Jahre alt. Blitzschnell rechnete sie zurück. Ungefähr die gleiche Zeit, zu der er sie damals entführte. Sie hatte keine Angst, dass der Typ sie irgendwie erkannte. Sie trug seit damals grüne Kontaktlinsen, damit ihre Augen sie nicht verrieten, und selbst ihre nächsten Bekannten, aus der Vergangenheit, erkannten sie nicht. Zu denen unterbrach sie vor Jahren den Kontakt. Gleichwohl brachten eisige Schauer, trotz der sommerlichen Temperaturen, ihre Zähne zum Klappern. Unter Aufbietung aller Kraft behielt sie die Kontrolle.

      Die junge Frau ging in Richtung Haltestelle und bestieg dort den Bus nach Melaten. Susanne folgte ihr ebenso, wie der Mann. In Höhe der Studentenwohnungen stieg die fremde Blonde aus. Während der Unbekannte zurückblieb, schloss Susanne auf. Sie folgte der scheinbaren Studentin in den Wohnblock und beobachtete, wie sie im Appartement dreihundertzwölf verschwand. Auf dem Briefkasten im Eingangsbereich fand sie den Namen Gerlinde Schmied. Die Arme, dachte sie. Auch noch ›deutsche‹ Eltern ...

      Susanne suchte schnurstracks eine Auskunftei und beauftragte sie mit der Beschattung von Gerlinde Schmied sowie des Unbekannten. An Geld mangelte es ihr nicht. Ihre Mutter verschwand an ihrem vierten Geburtstag. Der Vater hinterließ ihr, nach einem Autounfall, wenige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag, ein beträchtliches Vermögen.

      Vierzehn Tage später hielt sie den ersten Bericht der Detektei in den Händen und wusste, dass das, was sie vermutete, wieder geschehen war.

      Empfindungen, die sie vergessen glaubte, stiegen empor und traten in den Vordergrund des Denkprozesses. Übelkeit und Schauer schüttelten ihren Körper. Unbändige Angst zog auf. Sie musste etwas unternehmen.

      *

      Susanne stand auf und ging der Frau entgegen, die das Büro betrat.

      »Schön, dass Sie kommen konnten. Ich bin Susanne Treber.« Sie reichte der Besucherin die Hand.

      »Gerlinde Schmied. Selbstverständlich bin ich gekommen. Ich wundere mich etwas, weil ich erst im dritten Semester bin. Nie rechnete ich damit, schon so früh zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.« Das sympathische Gesicht lächelte.

      »Ich dachte an einen Job. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Studenten immer knapp bei Kasse sind.« Sie musste irgendeine plausible Geschichte zusammenbekommen.

      »Da haben Sie recht. Woran haben Sie gedacht?« Gerlinde trat unbefangen auf.

      »Zunächst einfache Arbeiten hier im Büro.« Susanne deutete zu dem Besprechungstisch, auf dem Tagungsgetränke standen. »Nehmen Sie Platz.«

      »Wie Sie wissen, studiere ich Maschinenbau. Ich habe es bei unserem Telefonat erwähnt.«

      »Ja. Richtig«, erwiderte Susanne. »Sie glauben nicht, wie die Architektur mit dem Maschinenbau verwoben ist. Die physikalischen Grundlagen sind dieselben. Sie werden genug zu tun bekommen.«

      »Ich freue mich darauf«, entgegnete Gerlinde.

      Das geschah vor drei Monaten. Gerlinde fügte sich gut ein und arbeitete im Schnitt zwanzig Stunden in der Woche für das Büro. Den heutigen Termin beraumte Susanne kurzfristig an, nachdem sie gestern den Namen des Mannes mit den stechenden Augen erfuhr. Günter Säger, vierundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Herzogenrath.

      »Gerlinde. Ich möchte ein heikles Thema mit Ihnen besprechen.« Ihre Augen ruhten gespannt auf der Studentin.

      »Sie können alles mit mir besprechen, Susanne. Wollen Sie mir kündigen?«

      »Nein. Dazu besteht kein Anlass. Es ist ein privater Grund und könnte Sie verletzen.« Sie begann vorsichtig.

      Sofort trat ein misstrauischer Ausdruck in Gerlindes Gesicht, den schmerzhafte Gewissheit ersetzte. »Sie wissen, was mir geschehen ist?«

      Susanne nickte. »Mir ist es vor elf Jahren ebenso geschehen.«

      »Deshalb stellten Sie mich ein? Ich habe den Wahnsinn so gut wie möglich verdrängt.« Dicke Tränen kullerten die Wange hinunter.