Fall eines Engels. Simone Lilly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simone Lilly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742796493
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      Adral war zum Ausbilder gerufen worden. Kleinlaut war er vor ihm gestanden, inmitten seiner ganzen Klasse. Er war beschuldigt worden einen wertvollen Kopfschmuck geklaut zu haben, man durchsuchte gegen seinen Willen alle Taschen von ihm und sogar seinen Schrank. Als man nichts fand, fasste Adral sich ein Herz und beichtete dem Ausbilder, dass er von anderen Engeln immer geärgert wurde, dass sie ihm schadeten ihm nichts Gutes wollten. In Fahrt unterstellte er ihnen auch, sie hätten ihm eine solche Tat nur anhängen wollen. Gar nicht begeistert hatte der Ausbilder mit der Zunge geschnalzt und war dicht an Adral herangetreten. „Beleidige nicht die Engel, du wirst es schon gewesen sein. Was anderes könntet ihr auch tun?“

      Mit diesen Worten hatte er Adral am Kragen gepackt und ihn mit sich mit gezerrt, in einen Raum, in welchem nur Wolken existierten, weiße, dichte Wolken. In freier Natur waren sie immer ein schöner Anblick, saß man aber einen ganzen Tag inmitten einer weißen Wand, so verging es einem sehr schnell. Man wurde nahezu verrückt. Es war eisig kalt, man konnte kaum atmen, die Augen schmerzten, man wurde geblendet und bald gelangweilt, sah man doch nichts außer weißen Fäden. Bald schon wusste man nicht mehr wo oben und unten war, was links und rechts war, man flog, stieg in die Luft, in der Hoffnung zu entkommen, doch man kam nicht weit. Einmal war Raphal dort gewesen, nur für zwei Stunden, hatte es kaum ausgehalten. Adral aber hatte fast die Hälfte seiner Ausbildung dort verbracht, manchmal sogar einen ganzen Tag lang.

      Als Adral es am Abend ihren Eltern erzählt hatte, hatten sie ihm nicht geglaubt und sich fragend an Raphal gewandt. Hätte er es ihnen bestätigt, so hätten sie mit den Ausbildern gesprochen, aus Angst dadurch aber selbst zum Opfer zu werden, zum Teufel, hatte Raphal geschwiegen und die Anschuldigung seines Bruders geleugnet. Enttäuscht hatte Adral sich an diesem Abend von ihm fort gedreht, niemals würde Raphal seinen leeren und doch hasserfüllten Blick vergessen, wie seine Augen ihn durchbohrten und ihn fast in die Knie zwangen. An diesem Tag, das wusste er, hatte er das Band, welches ihn und seinen Bruder verbunden hatte, zerrissen.

      Tief in seinem Inneren wusste er, dass Adral ihm niemals verzeihen würde, und das hatte er bis jetzt auch nicht getan. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, das aber nur da Raphal ihm einfach hinterherrannte, als wäre er sein kleiner hilfloser Bruder, als wüsste er ohne Adral nichts mit sich anzufangen.

      Wortlos setzte auch er sich auf die Mauer und lies die Beine baumeln. Das war auch so, ohne Adral hatte Raphal keine Freunde, nicht, da er keine fand, sondern er hatte es schon immer als unfair angesehen, sich mit anderen anzufreunden, während Adral allein zurückblieb. Sie waren füreinander da und verantwortlich.

      Stur blickte Adral nach vorne, auf das gewaltige Tor. Es war verschlossen. Lauschte man aufmerksam, konnte man ein leises Surren, das von den dicken Stahlwänden ausging, hören. Es wirkte beinahe bedrohlich. Für alle war es ein heiliger Ort, um den sich viele Sagen rankten. Ob sie stimmten wusste nahezu keiner, aber sie waren überliefert.

      Kurz nach dem Entstehen der Menschheit hatte der Überlieferung zufolge, einer von ihnen versucht, ihr Himmelsreich zu erobern, war aber vor den verschlossenen Türen gescheitert, auf die harte Erde zurückgeprallt und dort gestorben. Unrealistisch so fand Raphal, denn erstens, wie hätte der Mensch von ihrer Existenz erfahren sollen und zweitens: wie um alles in der Welt hätte er die Kraft gehabt, bis zu ihnen hinaufzufliegen – ohne Flügel?

      Wieder sah er zu Adral. Regungslos hatte er sich nach hinten gelehnt und blickte sich immer noch um. Was genau er ansah, wusste er nicht. Denn alles um sie herum bestand aus blauem Himmel, dem Tor und einigen Mauern.

      In ihrer Geschichte gab es viele Lücken. So fehlte auch die Erkenntnis, ob es nun wirklich Menschen als solche gab, oder es nur gefallene Engel und Teufel, welche ihr zweites Leben dort unten verbrachten, waren.

      Darauf hatte auch Adriel keine Antwort gewusst, was viel bedeuten musste, denn er wusste nahezu alles.

      „Ich weiß woran du denkst.“, sagte Adral unerwartet und sprang von der Mauer.

      „Wirklich?“

      „Ja, wie immer. Du denkst darüber nach was du denn falsch gemacht hättest, dass ich dich ignoriere.“

      So genau hatte Raphal es nicht gedacht, doch hielt er es für unklug, seinen Bruder über seine wahren Gedanken aufzuklären. Darum tat er es ihm einfach nach, sprang von den Steinen und landete steif auf seinen Füßen. „Kriege ich auf meine Frage auch eine Antwort, wenn du sie schon weißt?“

      „Nein.“

      „Wieso nicht?“

      Adral schoss in die Höhe, seine Flügel wurden von starkem Wind durchwühlt, eine einsame Feder rieselte langsam vor Raphals Nase auf den Himmelsboden und blieb dort regungslos liegen.

      „Du denkst also wirklich, ich gebe mich damit zufrieden?“

      Adral nickte und wurde schneller, obwohl auch Raphal in die Lüfte gestiegen war, konnte er seinen Bruder nur schwer einholen. „Ja das tue ich.“

      „Aus welchem Grund?“

      „Weil du das schon immer getan hast.“

      Ein anderer Himmelsmensch kreuzte seinen Weg, ganz auf Adral konzentriert, rumpelte Raphal ungebremst gegen ihn. „Es tut mir leid!“, brüllte er ihm entgegen, bekam aber nichts anderes als einen wütenden Fluch als Antwort.

      "Was willst du? Lass mich endlich in Ruhe!"

      Er ignorierte Adrals Schrei und beschleunigte seinen Flug nur noch mehr um ihm folgen zu können.

       Merlina

      Eine unruhige Nacht lag hinter ihm, schon seit den frühen Morgenstunden lag Raphal im Bett. Es war weich und schmiegte sich herrlich leicht an seinen Rücken. Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen, lediglich ein matter Schimmer stahl sich durch die Fenster zu ihm hinein. Durch ihn war es Raphal möglich, leichte Umrisse seines Zimmers zu erkennen. Den Tisch auf welchem er des öfteren - nur wenn er Lust hatte- Hausaufgaben erledigt hatte, das Bücherregal, welches sich schräg über seinem Spiegel befand und von ihm beinahe unberührt war, den flauschigen Teppich auf dem Boden sowie den wackligen Stuhl auf welchem er fast nie saß. Meistens lag er auf dem Bett, oder schwebte sinnlos in der Luft umher. Der Streit vom Vortag steckte ihm wie immer in den Knochen. Getroffen setzte er sich auf und rieb sich über das verschlafene Gesicht.

      Eigentlich war er der Ältere, ihm sollte es egal sein, wie Adral mit ihm sprach, aber er dachte, nein hoffte immernoch sie würden sich gut verstehen und wären eine Einheit. Manchmal ja da gab es Zeiten, in denen er wahrlich daran glaubte. Bei gemeinsamen Festen konnten sie sich stundenlang unterhalten. Wenn es ihnen sonst zu langweilig wurde, waren sie immer füreinander da, doch Raphal hatte schon längst den Verdacht, Adral würde ihn für seine weißen Flügel verantwortlich machen und ihn dafür hassen. Doch was konnte er denn dafür? Er hatte doch nichts getan, jedenfalls nichts weiteres als ihn mehrmals verleugnet.

      Langsam erhob er sich, sah sich erstmal unsicher um, entschied sich dann aber dazu, sich zu bürsten. Leicht durchfuhren die Borsten seine Strähnen und legten sie wieder ordentlich um seinen Kopf. Nach getaner Arbeit öffnete er die Zimmertür und spähte nach draußen in den Flur. Direkt seinem Zimmer gegenüber befand sich Adrals Raum. Es war ruhig, seine Tür war verschlossen, Raphal konnte nur auf eine weiße Mauer blicken. Ging man die Treppen hinunter, so wäre man im Wohnzimmer und im Schlafzimmer seiner Eltern, nichts war zu hören. Alle schliefen noch. Es musste verdammt früh sein. Froh darüber ging er wieder zurück, schloss die Tür und wandte sich zum Fenster. Er wollte fort von hier, wenigstens für den Moment. Einmal wo hinfliegen, ohne dass Adral bei ihm war. Neben ihm kam er sich langsam wie ein kleines Vögelchen vor, das ihm, wann immer das Herrchen das Haus verließ, treu hinterherflog.

      Leichtfüßig glitt er aus dem Fenster in den Himmel. Vereinzelt standen noch schwache Sterne am Himmel, beruhigend funkelten sie auf ihn hinab. Jetzt da er nicht mehr im dunklen Raum war, wurde ihm erst richtig bewusst, wie hell es bereits geworden war, hier über den Wolken konnte er seine Hand deutlich vor Augen sehen. Wohin er genau wollte konnte Raphal noch nicht sagen, für den Moment aber genoss er die nächtliche Stille um ihn herum, einfach das Alleinsein, das