„Mir ist nur kalt“, murmelte ich.
„Ah! Hoffentlich wirst du nicht krank. Schade, dass du Justin versäumt hast. Das ist ja schnell gegangen mit den Bildern, nicht wahr?“
Ich ließ mich auf einen der Küchenstühle sinken. Justin? Hier? Versäumt? Wie konnte das sein? Also war er doch im Haus gewesen. „Und ist er … ist er nicht mehr da?“, stammelte ich.
„Wer? Justin?“ Lia schüttelte den Kopf. „Die wollten weg. Hast du sie unten nicht mehr getroffen? Valentina hat schon wieder ein Fotoshooting. In Neapel, glaube ich. Oder war das …? Na, egal“, winkte sie ab. „Ihr müsst euch haarscharf verpasst haben.“ Sie schob mir ein paar Fotos zu. „Schau mal, da bist du drauf und deine Freundin!“
Lustlos und nur um Lia eine Freude zu machen blätterte ich durch den Haufen. Justin war fort und ich hatte ihn nicht mehr getroffen. Mir kam es vor, als hätte jemand einen Schalter ausgeknipst, so grau war plötzlich alles.
5
Die nächsten Tage vergingen öde und gleichförmig: Schule, Werkstatt, Schule, Werkstatt. Unvermittelt war es Herbst geworden.
Die Ruhe des regenfeuchten Gartens empfing mich beim Nachhausekommen wie eine Oase. Alles schien leicht zu dampfen, Schatten verschmolzen mit dunklen Pfützen und in der Marmorhand blinkt eine kleine Lache. Ich warf einen Blick ins Atelier, sah niemanden und drehte mich zum Gehen. Fast prallte ich gegen eine Gestalt, die sich hinter mir aus dem Halbdunkel schälte. Das helle Oval eines Gesichtes, wässrige Augen, um die sich tausend Runzeln zogen - die Bettlerin, die immer auf unserer Piazza stand. Was machte die denn hier?
„Nettes Mädchen“, ächzte sie. „Nettes Mädchen! Du hilfst mir bestimmt, nicht wahr?“
„Gerne“, stammelte ich. „Aber was soll ich denn … Ich meine, was kann ich …“
„Die Katzen“, unterbrach sie mich. „So nette Tierchen! Und warten doch auf mich! Aber mein Bein, weißt du? Morgen muss ich in die Klinik, bleibt nichts anderes übrig.“ Sie nickte ein paar Mal mit dem Kopf. „Da muss man früh hin, sehr früh, sonst kommt man da im Leben nicht mehr dran und meine Schätzchen warten doch, verstehst du?“
„Äh …“ Nein, ich verstand gar nichts.
„Komm!“ Sie schlurfte voraus, durch eine kleine Eisentür, hinter das Haus, wo die Bäume dicht an der Außenmauer standen. Der Schuppen mit dem Rasenmäher und den Gartengeräten war hier, an seiner Wand standen ausrangierte Gartenmöbel gestapelt. Ganz hinten versteckte sich ein Eingang, den ich bis jetzt noch nicht entdeckt hatte. Die Frau schien hier zu wohnen.
„Da! Das Essen für meine Lieblinge!“ Sie hob den zerbeulten Deckel von einem Topf, der auf einem alten Holzofen stand. „Ich stell’s dir vor die Tür, ja? Und du gehst und fütterst die Kleinen. Aber früh musst du dort sein. Gerade wenn die Sonne aufgegangen ist. Vor allen anderen, ja?“
„Ja, aber …“, protestierte ich. „Ich weiß gar nicht …“
„Im Giardinetto. Neben der Ruine. Die Kätzchen zeigen dir schon, wo, keine Sorge. Und jetzt geh!“ Sie schob mich aus der Tür, als wäre ich ein lästiger Besuch. „Morgen …“, begann sie, dann aber brach sie jäh ab und starrte über meine Schulter.
Ich stand reglos, dabei wäre ich am liebsten gerannt. Umgedreht und gerannt. Panik erfasste mich - vor der Alten und vor dem, was sie hinter meinem Rücken fixierte. Sie stieß einen ächzenden Ton aus.
„Was … ist denn?“ Ich brachte es kaum heraus, wagte es nicht, über meine Schulter zu blicken.
„Anima“, flüsterte sie kaum verständlich. „Anima.“ Ihr Blick fokussierte schlagartig wieder auf mich. „Allora, domani! Morgen also!“ Sie zog mit einem Ruck die Tür ins Schloss. Ich stand in völliger Dunkelheit. Stolpernd tastete ich mich an den Gartenmöbeln vorbei. Jetzt konnte ich als blasses Rechteck den Ausgang zum Garten ausmachen. Neben mir ein schleifendes Geräusch, dann wieder Stille. „Hallo“, flüsterte ich. „Hallo?“ War da jemand? War da ein Atmen?
Ich rannte, stieß gegen den Rasenmäher, hetzte hinaus, die Treppe hinauf und fiel regelrecht in die Wohnung. Keuchend lehnte ich mich an die Tür. Die alte Frau … woher kannte sie meinen zweiten Vornamen? Mein ganzer Name lautete Maria-Selina Anima Fenice. Das konnte sie doch unmöglich wissen. Oder hatte sie das nur so gesagt? Anima heißt im Italienischen Seele und man sagt solche Ausdrücke oft aus Sympathie: amore, anima …
Aus dem Wohnzimmer klang Musik.
Lia saß mit einem Buch auf der Couch. Dieses eine Mal war es mir völlig gleichgültig, ob ich sie störte. Ich warf mich aufatmend neben sie. „Ich hatte keine Ahnung, dass jemand hinten im Schuppen haust! Die alte Frau … Wer ist das?“
„Haust ist das richtige Wort.“ Lia ließ seufzend ihr Buch sinken. „Das ist Marzia. Mich wundert nicht, dass du sie vorher noch nicht bemerkt hast. Sie lebt wie ein Schatten da hinten in der Kammer und huscht durch ein kleines Pförtchen in der Mauer aus und ein. Wir wollten ihr schon x-mal ein schöneres Zimmer beschaffen oder sie zu uns nehmen oder zumindest den Schuppen ein bisschen herrichten, aber sie besteht darauf, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie sagt, es muss so sein und nicht anders.“
„Wahrscheinlich ist sie froh, dass sie überhaupt da sein darf. Dass ihr sie aufgenommen habt.“
„Das haben wir gar nicht.“ Lia schüttelte den Kopf. „Sie war schon vor uns allen da. Das Gebäude war vor Urzeiten einmal ein Kinderhospital. Dann kam der Krieg und es wurde zum Lazarett umfunktioniert. Marzia scheint eine der Krankenschwestern gewesen zu sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie alt sie inzwischen ist! Nach dem Krieg wurden die Mietwohnungen hier errichtet. Aber Marzia ist geblieben. Wahrscheinlich hatte sie niemanden mehr, zu dem sie hätte heimkehren können. - Du hast dich hoffentlich nicht vor ihr geängstigt?“
„Ein bisschen.“ Ich zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Sie will, dass ich morgen die Katzen füttere. Sie muss in die Klinik, wegen ihrem Fuß.“
„Ihr Fuß? Oje!“ Lia lächelte plötzlich. „Dann bist du jetzt die Gattara. – Das sind die Frauen, die die wilden Katzen füttern“, fügte sie hinzu, als sie meine ratlose Miene sah. „Deine Mutter würde staunen, was für eine Römerin schon aus dir geworden ist!“
„Von deiner Mutter ganz zu schweigen!“ Ich musste lachen. Mit einem Mal wusste ich gar nicht mehr, warum ich mich vorher so gefürchtet hatte.
Ich war mir nicht ganz sicher, wann die Sonne aufging und stellte mir den Wecker auf fünf Uhr. Das Läuten holte mich beim ersten Dämmerlicht aus dem Schlaf. So ungefähr hatte ich also richtig geschätzt. Gähnend fuhr ich in Jeans, Sweatshirt, eine alte Gartenjacke von Lia und putzte mir kurz die Zähne. Alles andere konnte warten. Ich schlüpfte aus der Wohnung und zog leise die Tür hinter mir ins Schloss.
Der Topf stand in einem Korb vor der Haustür, der Deckel war mit einem Stück Kordel festgebunden. Das Ganze war schwer und unhandlich und ich wunderte mich, wie die alte Frau das jeden Morgen schaffte. Die Straßen lagen ausgestorben, nur ein Auto der Straßenreinigung schob sich dumpf brummend den Rinnstein entlang. Der Giardinetto, das ‚Gärtchen’ unseres Stadtviertels, war am Ende der Straße. Ein kleiner Park, tagsüber von dichtem Verkehr und Markttreiben umflossen. Jetzt lag er eingebettet in Stille.
Das Tor an der Stirnseite war bereits geöffnet. Der Kies des Parkwegs knirschte leicht unter meinen Sohlen, das Trällern eines Vogels schnitt klar durch den Morgen. Hier, bei der Ruine eines altrömischen Aquädukts, musste irgendwo die Futterstelle sein.
Die Katzen zeigen dir schon den Weg, hatte die alte Frau gesagt und ich wusste bald, wovon sie gesprochen hatte. Glitzernde Augenpaare fixierten mich unbeweglich aus den Büschen, ich hörte Maunzen, ein pelziger, getigerter Körper strich mir weich um die Beine und dann kamen sie plötzlich aus allen Richtungen gelaufen: magere, struppige und schmutzige Katzen, mit räudigen Stellen in den Pelzen und verkrusteten Wunden,