»Hmmm. Hmmm.«
»Letzte Seite«, sagt Tante Heidi.
»Aber ja, aber ja«, murmelt Bürgermeister Marther und griffelt sich durch die Akte, meine Personalakte, wie ich mal vermute. Ist das jetzt gut oder eher grauenvoll?
»Ah, ja. Also, Herr Freiwaldt, da ist natürlich noch die Sache mit der Bezahlung.«
Grauenvoll, definitiv.
»Also, kurz gesagt, wir können Ihnen aufgrund ihrer Berufserfahrung, die wir rein qualitativ natürlich als enorm betrachten, Herr Freiwaldt, bitte verstehen Sie mich da richtig! Und da spielt es gar keine Rolle, dass Sie noch keine Meisterprüfung abgelegt haben. Das ist ja nicht mehr bindend, als Badleiter muss man ja nicht mehr zwingend, wie früher, den Meister... wie heißt das noch?«
»Meister für Bäderbetriebe«, hilft Tante Heidi.
»Genau, genau. Das geht ja auch als ganz normaler Schwimmmeister, oder Fachangestellter für Bäderbetriebe heißt das ja jetzt, so viel Zeit muss sein.«
Mir doch egal, wie das einer nennt. Schwimmmeister geht immer. Im Gegensatz zu vielen eher mimosenhaften Kollegen habe ich auch kein Problem mit dem irgendwo zwischen Hohn und Neid schwankenden Ehrentitel Bademeister. Da weiß man doch worum's geht!
Bürgermeister Marther griffelt. »Also, kurz gesagt, steht da laut Tarifvertrag für sie noch kein weiterer Bewährungsaufstieg an, der letzte ist ja auch noch nicht solange her.«
Und war eher symbolischer Natur, aber ich will mal nicht jammern.
»Ich denke aber mal, dass die Verantwortung, die Sie bereit sind, zu übernehmen in Kombination mit der Größe des Bades, also des Personals, jetzt, der Mitarbeiter, meine ich – das sollte auf jeden Fall über eine Art Funktionszulage zu regeln sein. Das muss ja honoriert werden! Frau Sarge-Albenbrecht wird da die Tage mal in Ruhe drauf gucken, was da rauszuholen ist, zu beiderseitiger Zufriedenheit. Die kleinste Geige spielt ja immer noch die schönste Musik, nicht wahr?«
Er reibt mehrmals Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und freut sich rührend unschuldig über seinen kleinen Witz. Ich gluckse höflich. Tante Heidis Stuhl faucht. Sie räuspert sich.
»Da wird auf jeden Fall was zu machen sein«, sagt sie fest. »Als Hans-Herrmann Klamm damals die Leitung vom alten Leyendieck übernommen hat, lief das ähnlich. Gut, der hatte den Meister aber ist ja lange her. Mensch, Mensch. Das waren zwar andere Zeiten, aber in Angesicht deiner besonderen Situation... Das muss man ja berücksichtigen, dass du jetzt nicht nur die klassischen Betriebsleiteraufgaben übernimmst. Das ist ja doch ein bisschen, äh, äh, anspruchsvoller, was da noch so auf dich und auf uns alle zukommt.«
Sie blickt hilflos zu Bürgermeister Marther hinüber, der einen geheimnisvollen synkopischen Rhythmus auf dem Deckblatt meiner Akte trommelt und dabei die Wangen einsaugt und aufbläht. Moment mal, das gefällt mir nicht. Da kommt doch noch was. Das war so klar. Ich Arsch...
»Was da auf noch so auf mich zukommt?« quake ich. »Besondere Situation?«
Wir glotzen im Dreieck, wie die Käuzchen im Vogelpark, immer hin und her rucken die Köpfe.
»Besondere? Situation? Also noch besonderer als von heute auf morgen meinen verstorbenen Chef zu ersetzen?«
Irgendwo im Vorzimmer oder auf dem Flur spielt ein Handy das Telekom-Jingle. Wer hat denn sowas noch? Bürgermeister Marther versucht mich anscheinend zu hypnotisieren, während Tante Heidi, vom Brillennuckelimpuls gepackt, tapfer ihre epileptisch Richtung Gesicht und zurück zuckende Hand unter Kontrolle bringt. Die kleine Flamme in meinem Bauch wandert Richtung Brust.
»Kann mir bitte mal jemand auf die Sprünge helfen?«
Wieder leises Gelächter von draußen. Was ist denn hier so amüsant? Hier ist ein Mensch gestorben, verdammt!
Bürgermeister Marther stößt sich mitsamt Drehstuhl von seinem Schreibtisch ab, fast angewidert, mit einem Schwung, dass er fast an die Panoramascheibe hinter sich anstößt, stützt die Ellenbogen auf die Knie und massiert sein Gesicht faltig, mit einer Inbrunst, die mir Sorgen bereitet. Ich kannte mal einen, der hatte einen dieser furchtbar knitterigen Tempelhunde oder wie die heißen. Sah ganz ähnlich aus. Das Vieh hatte aber deutlich weniger Kummer, als der kleine weiche Mann, der, hinter sich das Schweigener Postkartenidyll inklusive Schlüterscher Lebensader und Gründermythos, gerade die Hände in seine Stirn gräbt. Ja, will der sich denn gleich die Augen aus dem Kopf reißen? Tante Heidis Stuhl hört gar nicht mehr auf zu fauchen.
»Ja, Felix«, sagt sie, nein, würgt sie fast. »Ja. Ja. Da ist noch was. Das ist wie, wie...«
Sie blinzelt glänzend um sich herum. Zitterbacken. Die nächste Stufe nach Brillennuckeln, au weia. Bürgermeister Marther wippt mit zurückgelehntem Kopf in seinem Stuhl und dreht sich sachte Richtung Schweigen zu und zurück, mir sein Profil zugewandt.
»Um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt. Die Sache ist intensiv aber überschaubar«, nuschelt er so leise, ich hör ihn fast so schlecht wie ich ihn verstehe.
»Das Buch des Lebens!« fuchtelt Tante Heidi.
Was hat sie bloß mit dieser bescheuerten Platitude?
»Das ist genauso, wie das, was ich vorhin meinte, mit dem Buch des Lebens. Dass wir nicht immer sofort begreifen können, was da drin steht und so weiter. Für uns alle hier, also für Bürgermeister Marther und mich und dich und für ganz Schweigen... Nicht nur das Forstbad, Felix, ganz Schweigen! Also, wie gesagt, für uns alle beginnt jetzt nämlich ein ganz neues, aufregendes Kapitel. Und manchmal, du weißt das bestimmt, du liest doch immer so viel, manchmal kriegt man die dollsten Gedanken bei sowas. Neues! Unbekanntes! Das ist ja ganz natürlich, dass einem das unheimlich ist. Das ist doch keine Schande. Mensch, Mensch, wie soll das bloß gutgehen und was man da nicht alles so denkt... Wie auch immer, wichtig ist, dass man nicht allein ist und an einem Strang zieht und, dass man weiß was man kann. Vertrauen! Und Mut muss man haben, dann schafft man alles. Und, dass man die Chance erkennt, die...«
Bürgermeister Marther gibt eine Mischung aus Knurren und verzweifelt gähnendem Schmerzensschrei von sich, rollt sich bis ganz dicht an seinen Schreibtisch heran und faltet die Hände. Die linke Hand dreht wie ein Automat den Ehering an der Rechten.
»Im Grunde ist es ganz einfach zu erklären, Herr Freiwaldt«, stöhnt er, sammelt sich kurz, strafft seinen runden Rumpf und blickt mir ins Gesicht. Etwas breiig und viskos. Zementen.
»Mit Wirkung zum 31.12. dieses Jahres, wird das Forstbad Schweigen aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen.«
Was machen die mit mir? Was zum Teufel machen die bloß immer alle mit mir? Als wenn man sich nach Jahren der Flugangst endlich zu seinem ersten Fallschirmsprung durchringt und kurz bevor man im Freifall die Leine reißen will von einem Klotz verglühenden Weltraumschrotts erschlagen wird. Oder schartige Blöcke gefrorener Pisse aus dem Billigfliegerbordklo. Hört man ja immer wieder, sowas. Jetzt mal ganz ruhig, Flex, ganz kalt. Erstmal Fakten.
»Heißt das...«, beginne ich und täusche ein Räuspern vor, als ich merke, dass ich fast schon schreie. »Ich meine, verstehe ich das hier gerade richtig, Sie wollen mich, na ja, wie soll ich sagen, befördern, nur um mich dann in ein paar Monaten zu feuern? Und, und, und... was heißt denn überhaupt schließen? Aus wirtschaftlichen Gründen? Pleite? Zu? Richtig zu?«
Tante Heidi grabbelt vor sich in der Luft herum, knetet den Saum ihrer Kostümjacke, schnaubt und prustet. Schnappatmung droht und somit Stufe drei nach Backenzittern und Brillennuckeln. Ihr Erdbeer-Tabakatem weht zu mir herüber, legt sich kurz auf mein Gesicht, auf meinen Hals, ebbt ab wie ein verfaulender Sommerabend. Bürgermeister Marther indes, hat endgültig die Contenance zurückgewonnen und lehnt sich in grauer Gelassenheit zurück. Seine Hände falten sich auf. Fast möchte ich meinen Kopf hineinlegen und ein wenig ausruhen.
»Nein,