Ulf Imwiehe
Gut Nass
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Inhaltsverzeichnis
Dienstag: Unruhe gleich Energie
Mittwoch: Aufsicht und besondere Aufgaben
Dienstag: Ein Gefühl von Fallen
Dienstag: Dinner der gebrochenen Herzen
Mittwoch: Absolutes Commitment
Mittwoch: Ein guter Eindruck muss schon sein
Montag: Ein Akt der Befreiung...
Montag: Evolution
Ich weiß alles. Ich komm nur meistens nicht drauf.
»Tot?«
Ich verspüre abwechselnd den Drang, zu lachen, zu husten, vielleicht fassungslos den Kopf zu schütteln. Etwas Angemessenes. Ich tue nichts von alledem. Stattdessen suche ich nach der Pointe, nach irgendetwas Verräterischem in Bürgermeister Marthers Verhalten, diesem freundlichen, verlegenen Säugling. So ein treues Gesicht, alles rund und sanft und glatt. So weiches, bleiches Haar, ganz fein und luftig und doch immer streng gescheitelt. Man will es streicheln, dieses Haar, sich drin vergraben und Schutz suchen. Es ist das einzig sirenenhafte an diesem nüchternen Mann, diesem hochprofessionellen Verwalter, der stets den Tränen nah scheint.
Er nickt gewichtig.
»Gestern. Stromschlag. Zack! Beim Heimwerken, wenn ich das richtig verstanden habe. Auf jeden Fall ist es wohl bei ihm zu Hause passiert. Ganz genau weiß ich das nicht, hab auch erst heute morgen davon erfahren. War ja noch ganz hysterisch, seine Frau...«
»Witwe«, unterbricht ihn Tante Heidi, die jeder so nennt, natürlich nur hinter ihrem Rücken oder, offen, auf Betriebsausflügen und dergleichen, unter dem Schutz der Promille. Sie ist es, die mich vor einer Stunde angerufen und zum außerordentlichen Krisengespräch ins Rathaus bestellt hat. An meinem ersten freien Tag seit zwei Wochen! Selbstverständlich, ohne mir zu verraten, worum es eigentlich geht, so wie es ihr Prinzip ist. Wer auch immer diese Frau vor, wie sie gerne betont, fast zwanzig Jahren zur Personalchefin der Gemeinde Schweigen gemacht hat, war entweder mit ihr verwandt, total verzweifelt oder hatte einen diabolischen Humor.
»Natürlich, Frau Sarge-Albenbrecht, natürlich. Witwe.«
Bürgermeister Marther fummelt an seiner Krawatte herum, die sich mit seinem üblichen Sherlock-Holmes-haften Sakko zu einem farbarmen Einsatzanzug vereint. Beige-graue Dezenz, die auch sein Büro bestimmt, seinen akkurat aufgeräumten Schreibtisch mit dem Panoramafenster im Rücken, das über den winzigen, spätsommerlichen Schweigener Bürgerpark hinausblickt, dahinter rostziegelig und von Chromadern durchwirkt, die Gebäude von Schlüters Schokoladenfabrik, Keimzelle und Herz des Ortes. Die Touristen lieben diesen Geruch, der Tag und Nacht über Schweigen liegt. Weihnachtsbäckerei. Fett. Trost. Und überall Wald. Wald, Wald, Wald.
»Ja, äh, und jetzt?«
Ich war schon eloquenter, zugegeben, aber meine Frage muss wohl irgendetwas auslösen. Tante Heidi zuckt auf ihrem Stuhl neben mir zusammen, reißt sich die Brille herunter und kaut auf dem Bügel herum, als wäre sie plötzlich dem Hungertod nahe. Sie starrt mich an, knabbert, nuckelt und gibt kaum wahrnehmbare frierende Laute von sich, wie eine Grippekranke, die sich in den Schlaf schluchzt. Sie wechselt einen Blick mit Bürgermeister Marther, der nervös die Maus seines PCs hin und her schubst. Durch die Tür zum Vorzimmer von Bürgermeister Marthers Büro höre ich gedämpfte Stimmen, gefolgt vom Gelächter seiner Sekretärin. Ich komme mir ein wenig grotesk vor, in meinen schlotterigen Sportklamotten, aber was holen die mich auch direkt vom Fahrrad hierher?
»Wir haben uns gedacht...«, sagt Bürgermeister Marther.
»Im Angesicht der...«, sagt Tante Heidi.
Höfliches Gegrinse. Bürgermeister Marther weist ein wenig gönnerhaft und irgendwie sehr erleichtert wirkend auf Tante Heidi, die sich entschlossen die Brille wieder aufsetzt.
»Im Angesicht der Tragödie, die uns alle so unvorbereitet getroffen hat, erkennen wir, also Herr Bürgermeister Marther und ich, aber ich denke, ich spreche auch für die Gemeinde Schweigen an sich, bei allem Schmerz, die Notwendigkeit, zusammenzuhalten und ein gemeinsames Ziel im Blick zu haben.