„Berger, Sie sind der richtige Mann, den Nachwuchs zu...“
„...einzuführen, wie? Soll ich auch noch ermitteln, was meint ihr?“, rief Max den Kollegen zu, „was werde ich wohl ermitteln, na? Jeden Quadratzentimeter werde ich untersuchen, von der Stirn bis zu den Zehen. Jeden Quadratzentimeter Haut genauestens befingern und, und ...“
Max beugte sich vor, drückte die Brust vors Lenkrad. Wenn der Einbeinige schon am Kiosk lehnte, dann lag am Ende seiner Pünktlichkeit noch viel zu viel Weg vor ihm. Näher als sonst musste Max heute heranfahren, bevor die Kanten und Konturen des Kiosks aus dem Wasser auftauchten. Ihre Schultern an den Kiosk gedrückt versuchten Wind und Regen die Bude wegzuschieben, war aber bis jetzt gescheitert. Dass er so nah ran musste, schob Max auf die Wassergüsse gegen die Windschutzscheibe, nicht auf seine Augen. Er war zu spät. Ein einbeiniges Regencape an der Theke schwenkte eine Bierflasche und prostete ihm zu.
Max beschleunigte den Takt der Scheibenwischer und fuhr langsamer. Ihm lag nichts daran möglichst schnell in die Wilhelmstraße zu kommen. Eine Verkehrsstockung hier im platschenden Regen, wäre ihm jetzt willkommen, um seine Ankunft zu verzögern.
Vergewaltiger kotzten ihn an. Hollerkoop hatte ihm nicht nur das feuchte Früchtchen, sondern auch noch diesen unappetitlichen Fall angehängt. Der Beschuldigte ein aaliges Arschloch der ärgsten Art. Ein Rechtsanwalt. Einfach ein geiler Rohling. Dem die Eier abzureißen, wäre eine Wonne, selbst wenn er als Vergewaltiger unschuldig wäre. Dieses Gör, diese Clarissa, würde er gleich mit dem Kerl konfrontieren.
Wenn Hollerkoop sich so dafür einsetzte, ihm die Frau an die Füße und den freien Flug der Gedanken zu hängen, dann gab es dafür nur eine Erklärung. Max musste also herausfinden, in wessen Schuld Hollerkoop stand, dass er ihm diese feuchte Frucht an den Hals hängte. Wenn er das hatte, war es leichter sie wieder loszuwerden.
Max liebte, was die Täter hassten: Spuren und Zeugen, aber Opfer von Vergewaltigungen taugten als Zeugen noch weniger als unbeteiligte Zeugen. Ein vorbildlich exekutierter Mord, die Leiche nicht zu sehr zerstückelt, war ganz okay, aber Vergewaltigungen. Überhaupt waren ihm diese Wischiwaschifälle ein Gräuel. Entsetzlich die Gespräche mit dem Opfer. Die Aussagen sahen objektiv aus, waren es aber nicht. Die Opfer hatten ihr Wissen im Leib, wie sollten sie es mitteilen?
Keine enge Zusammenarbeit auf tagtäglicher Basis mit einer Frau war sein Leitsatz gewesen, aber gegen Hollerkoop hatte er sich nicht durchsetzen können. Wenn die auch noch attraktiv war! Die Zeiten eine Frau ablehnen zu können, hatten sich verschlechtert und seine Argumente waren auch nicht besser geworden. Politisch korrekt waren sie nie gewesen. Von seinem Augenhintergrund her stand er dem Playboy eigentlich doch etwas näher als den Zielen der Frauenbewegung (Phosphoreszierende Strumpfbänder – Arschzeigehosen – Tittenspitzen steif wie Radiergummis).
Clarissa war so jung, dass sie fast noch unter den Jugendschutz fiel. Eine Zumutung und Versuchung. Hollerkoop setzte seine Karriere leichtfertig aufs Spiel. Ihn würden sie am Ende verantwortlich machen, sexuelle Belästigung oder so. Hatte er sich etwa seine Testosteronschübe ausgesucht? Er war auch ein Opfer, alle Täter waren auch Opfer.
Dass in jedem Manne ein potenzieller Vergewaltiger stecke, war natürlich ein emanzipationsideologischer Trick, um den Kerlen permanent ein schlechtes Gewissen zu machen. So arbeiteten alle Religionsstifter um Macht zu erlangen. Und was war dabei herausgekommen am Ende? Der Belauerungskrampf zwischen Männlein und Weiblein. Wo nichts mehr selbstverständlich war, fanden Krankheit und Frustration ihre Brutstätten.
„Wo lässt man die Hände, wenn man neben einer Frau im Wagen sitzt? Raucht ihr beidhändig oder was?“ Aber die Kollegen hatten nur gelacht. „Legt ihr euch Handschellen an? Was habt ihr es doch weit gebracht! Mit einer Frau observieren!? Wie soll das gehen? Ich wüsste, was ich sehr, sehr exakt observieren würde. In diesen tropfnassen Oktobernächten, wenn hohle Winde um die Häuser johlen.“
Sie hatten ihn nicht ernst genommen als potenziellen Lusttäter. Ein guter Bulle aber muss etwas ahnen, wenn nicht wissen von der Lust am Laster - sämtlicher Laster. Wie sonst soll er sich in die Knallköpfe versetzen können? Sonst würde das nichts. Gelacht hatten sie. Gleiche fallen unter Gleichen eben nicht auf: der Lustmolch kaum unter den Machos. Sein Pech!
Als Max in sein Büro trat, war eine Sturmböe gerade dabei mithilfe des klatschenden Regens das Fenster einzudrücken, scheiterte aber. Von einem Stapel glitt ein Blatt Papier hinter Max her und flog von ihm unbemerkt gegen seinen Unterschenkel. Eine Dienstanweisung, die aufgeschlagen bei Kapitel fünf auf einem Aktenschrank lag, blätterte mehrere Seiten weiter. Dass Dinge sich nicht bewegen, wüssten Kinder schon in allerzartestem Alter, hatte Max gelesen. Dass jedes Ding seinen Platz hatte, hatte er den Sachen beigebracht und nach anfänglichem Protest hielten sie sich nun daran. Mit einem Wort, im Büro von Max herrschte Ordnung, vielleicht nicht für jeden unmittelbar sichtbar, doch für ihn schon.
Ein Schrei des Kollegen Fritz Zippel: „Du sollst 365 anrufen“, rief Fritz Zippel.
Ein Blick nur in Zippels Büro und schon war klar, wer dort das Sagen hatte, eindeutig die Dinge. Wo keine besudelten Kaffeebecher standen, stanken volle Aschenbecher. Wo keine Aschenbecher stanken, türmte sich Papier. Der Turm da hatte eines Tages keine Lust mehr am Balancieren gehabt und es sich bequem gemacht. Faxe und Fetzen mit Notizen, Tatmotive auf rote Schnipsel gekritzelt, Unausgegorenes auf grüne Zettel. Die grünen Zettel machten das Rennen. Anders als Max ließ Zippel den Dingen ihren Willen und so konnte es geschehen, dass eine Mappe mit Bildern vom Tatort heute links auf seinem Schreibtisch lag und morgen verschwunden war und übermorgen im Aktenschrank steckte. Ganz von allein.
„Was wollte er?“, fragte Max.
„Eh, Max, hast du den schon gehört, Fritz erzähl noch mal, wie ging er noch?“, sagte August Aulbur.
„Den versteht doch keiner“, sagte Fritz.
„Sogar August hat ihn verstanden“, sagte Max.
„Vielen Dank!“, sagte August
„Neinnein“, sagte Fritz, „nicht den Witz, ich meine Hubert versteht keiner. Immer nur Andeutungen.“
„Nun erzähl ihn schon!“, sagte August.
„Gleich, gleich“, sagte Fritz, „das Wichtigste zuerst.“ Er war dabei Kaffee zu kochen, der zwar magenkrank machte, aber wach hielt.
„Ohne Kaffee könnten wir die Bunzrepublik gleich an so einen Bastonadenstaat, Saudi Arabien oder so, verscheuern. Neunzig Prozent aller Fälle wären doch ohne Kaffee niemals aufgeklärt worden, aus den Krankenhäusern käme überhaupt keiner mehr lebend ohne Kaffee“, sagte Fritz und füllte pro Tasse drei gehäufte Löffel in die Brühmulde.
Neben dem Tisch mit der Kaffeemaschine stand ein sich selbst bemitleidender Gummibaum, für Max immer häufiger nur ein grüner Klecks. Die Farben und Formen von Menschen und Dingen verflüssigten sich immer häufiger in seinen Augen, verliefen wie Wasserfarbe im Regen.
Alles, was war, war geworden und konnte in einem rückwärts laufenden Film lebendig werden, wie in Max’ Film „Der melancholische Gummibaum“.
Tiefe Nacht. Licht und nervöse Schatten in den Büros und Gängen. Ein einsamer Kopierer seufzt eine letzte Kopie aus, eine Festplatte summt sich in den Schlaf und ein später Kollege wässert den Gummibaum auf eine Weise, die mehr über den gesunden Durst des Kollegen als über seine Pflanzenkenntnisse aussagt. Der Strahl spottet der Schwerkraft und fließt in den schlaffen Zipfel zurück und bläht die Blase wieder. Der Kollege blickt über die linke, blickt über die rechte Schulter, kratzt mit dem Daumen am Hinterkopf, hebt ein schlaffes Blatt, geht mit schleifender Hand rückwärts an der Wand entlang, verlässt das Gebäude und verschwindet endlich im Blauen Bären.
Alles konnte Max als Ausgangspunkt dienen, die fix und fertige Welt rückwärts fließen zu lassen. Das Schiffchen auf dem Bach schwamm flussaufwärts zur Hand zurück, die es vorsichtig reinsetzte, auf einem Tisch faltete