Nehmen wir an, Sie haben häufiger Gelegenheit, in einem Automobil zu fahren, Sie besitzen vielleicht sogar die Erlaubnis zum Führen eines solchen – werden Sie sich nicht auf die Seite des Chauffeurs schlagen? Sie können ja seinen Schrecken, sein vergebliches Bemühen, den Unfall zu vermeiden, nachempfinden; und folglich werden Sie dem Kind alle Schuld zuweisen, vielleicht auch die Mutter anklagen, sie hätte den Knaben festhalten müssen.
Ist Ihnen jedoch das Automobil fremd, dann erscheint es Ihnen gefährlich, und Sie fordern vom Fahrzeugführer ausreichend Vorsicht, die Sie hier also vermissen. Haben Sie gar kleinere Geschwister oder vielleicht einen Neffen im Kindesalter, mit dem Sie gerne ein wenig spielen, leiden Sie mit dem Kind, entschuldigen seine natürliche Lebhaftigkeit, die Ihnen ja vertraut ist, und verlangen die gebotene Rücksicht und Weitsicht von den Erwachsenen.
Und vielleicht fühlen Sie auch mit der Mutter, die dieses Kind mit Schmerzen geboren hat und es nun mit Schmerzen wieder verlieren muß. Das alles prägt Ihre Wahrnehmung und damit auch Ihre Aussage, und diese Aussage ist dann Grundlage für die Entscheidung, die ein Richter treffen muß. Ganz abgesehen davon, dass es auch dem Richter nicht immer gelingt, solche eigenen Erfahrungen aus seinem Urteil herauszuhalten. Versuchen Sie bitte für die nächste Sitzung, jeweils zwei Zeugenaussagen zu formulieren, ohne dabei die Fakten zu verändern.“
Am Abend suchte Ulrich den Freund Merlin auf. Er schilderte ihm, was er in dieser Sitzung erfahren hatte, und schloß: „Wenn das schon für eine simple Zeugenaussage gilt, die ja nur Tatsachen wiedergeben soll, um wie viel mehr ist dann jede literarische Äußerung, ja bereits jeder Artikel des Journalisten im Tageblatt weit ab von der Wirklichkeit, von der Wahrheit.“
„Du meinst also, es gibt im Grunde keine Objektivität?“ fragte Merlin zurück, und als Ulrich nur traurig nickte, fuhr er fort: „Aber es gibt eine innere Wahrheit, deine eigene Wahrheit. Und sie ist deshalb wahr, weil du mit ihr etwas ändern, Menschen bewegen willst. Es gibt die Wahrheit des Besseren, des Gerechten, ja, des Guten. Ist es nicht Aufgabe aller Literatur, für sie einzutreten?“
Doch Ulrich war wenig überzeugt: „Der Professor erwartet, dass seine Studenten verschiedene Wahrheiten formulieren, nur so, gleichsam zur Übung. Damit macht er sie zu Herren über die Wahrheit. Entscheidend ist allein die Formulierung der Aussage, der Stil. Das Lied, das du singst – wer bestimmt darüber? Wirklich du selbst, oder nicht doch der, dessen Brot du essen möchtest, essen musst, um nicht zu verhungern? Und wie steht es dann mit diesem anderen Sprichwort, das ja wohl aus der Bibel stammt: Niemand kann zwei Herren dienen? Wirklich nicht? Wenn es ums Brot geht – da reicht oft der eine Herr nicht. Und muß er dann vom anderen wissen?“
Merlin blickte den Freund aufmerksam an: „Möglich ist vieles. Möglich ist alles, wenn du nur nach dem Stil, der Formulierung fragst. Wer nur gefallen will, wer allein seine Lieder zu Brot machen will, braucht nur das nötige Geschick. Auf seine innere Wahrheit darf er dabei nicht mehr hören, und auf sein Gewissen schon gar nicht. Er hat vielleicht Erfolg, weil er den jeweils Mächtigen schmeichelt. Aber er wird nicht in die Geschichte der Literatur eingehen, da bin ich gewiß. Was wir nach Jahrzehnten, nach Jahrhunderten noch lesen, bedenken, bewundern, das hatte diese innere Wahrheit, denn sie ist zeitlos. Oder sagen wir so: Das hat eine Seele.
Was du da angedeutet hast, das wird immer seelenlos bleiben. Weil der, der es schrieb, seine Seele verkauft hat, an wen auch immer – an den Mammon, oder an eine Klasse, an eine Ideologie, an einen Herrscher. Und ich sage dir das eine: Er wird vielleicht angesehen sein, vielleicht auch reich, an Einfluß oder an Geld, aber er wird nicht glücklich sein. Niemals. Das ist sein Preis. Und der ist hoch – zu hoch, findest du nicht auch?“
Man müsste es ausprobieren, dachte Ulrich, aber er sprach es nicht aus. Er wollte dem Freund nicht wehtun. Und er war sich auch nicht sicher, ob er es könnte. Aber die Versuchung blieb. Er musste an Dr. Faustus denken: Hatte Goethe nicht eben diese Versuchung geschildert – die eigene Seele zu verkaufen gegen... ja, gegen was? Und hatte nicht eben dieser Faust bekannt, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen? Wie wäre es dann, nur die eine zu verkaufen? Ihm bliebe ja immer noch die andere. Er musste lächeln. Merlin aber wertete dieses Lächeln als Zustimmung, doch das war ein Irrtum. Er würde ihn erst viel später erkennen.
5. Kapitel
Die Lage in der Hauptstadt hatte sich weitgehend normalisiert, die Zeitungen berichteten nur noch von Aufständen und Kämpfen aus anderen Teilen des Reiches. Aber die Spaltung der Gesellschaft war auch hier geblieben, Linke und Rechte standen sich unversöhnlich gegenüber; Monarchisten, Demokraten und Kommunisten stritten nicht nur mit Worten, sondern oft genug auch mit Fäusten und Gewehren um die Macht. Das spiegelte sich auch in der Presse Berlins. Urich von Pendragon verfolgte nicht nur die verschiedenen Berichte unterschiedlich gefärbter Zeitungen mit großem Interesse, vor allem, wenn sie die gleichen Ereignisse nicht nur kontrovers kommentierten, sondern auch sehr unterschiedlich berichteten. Immer wieder kam ihm dann jene Übung aus dem juristischen Seminar in den Sinn, und immer wieder auch das Gespräch mit Merlin, dem nachdenklichen, besonnenen Freund.
Es gab noch ein anderes Interesse an Berlins Zeitungen: Ulrich hatte begonnen, gelegentlich kleine Artikel, vor allem über kulturelle Ereignisse, bei dieser oder jener Redaktion einzureichen, und war erfreut, dass sie oft auch angenommen wurden. Zunächst war es einfach sein Stolz darauf, etwas Schriftliches von sich veröffentlicht zu sehen, bald aber stellte er fest, dass er die Honorare gut verwenden konnte. Zwar erhielt er stets pünktlich den monatlichen Wechsel des Vaters, aber was vor kurzem noch ausreichte für einen angemessenen Lebenswandel, das erwies sich zunehmend als knapp bemessen.
Langsam schwand der Wert des Geldes dahin, Armut und Elend nahmen ringsherum sichtbar zu. Die Last des verlorenen Krieges, die immensen Forderungen der Sieger machten alle Anstrengungen der unterschiedlichen Regierungen zunichte, die Währung stabil zu halten und die Wirtschaft zu fördern. Da war zusätzlicher Verdienst durchaus angebracht und erwünscht, zumal er meist direkt ausgezahlt und so auch rasch wieder ausgegeben werden konnte.
Seit Herbst des Jahres 1922 war der Verfall der Währung unübersehbar geworden, alle sprachen nun von der drohenden Inflation, und bald stiegen die Beträge in schwindelnde Höhe, die man für das tägliche Brot zu zahlen hatte. Der monatliche Wechsel des Vaters, zwar längst jedes Mal erhöht, war am Ende des Monats nur noch ein Zehntel wert und bald noch weniger. Da wurde jede zusätzliche Zahlung zum Geschenk, das so rasch wie möglich gegen Ware getauscht werden musste. Bald waren diese Einkünfte wichtiger als die Unterstützung aus Platikow, und Ulrich begann, hektisch für möglichst verschiedene Blätter zu schreiben.
Und nun, teils aus der Not heraus und teils aus lange verdrängter Lust am Experiment, bediente er Zeitungen ganz unterschiedlicher Tendenz mit ebenso unterschiedlichen Berichten über ein und dasselbe Ereignis, getarnt durch mehrere Pseudonyme. Das zahlte sich nicht nur finanziell aus, denn er konnte schließlich nicht mehrere Veranstaltungen gleichzeitig besuchen, wohl aber über dieselbe mehrfach berichten; es wurde auch zu einer zynischen Erfahrung, wie weit er gehen konnte im Verzicht auf jene innere Wahrheit, wie weit er seine Seele verkaufen konnte, ohne dass sein Gewissen ihm Einhalt gebot.
Der Freund erfuhr von alledem nichts, und manchmal schien es, als würde er auch vor sich selbst dieses Geheimnis hüten, viele Seelen in sich zu tragen, die doch letztlich seelenlos waren. Längst war es wie ein Zwang geworden, diese pure Lust am Formulieren, diese bedenkenlose Bedienung jeglicher Propagandamaschinerie ohne Rücksicht auf Wahrheit, auf die innere Wahrheit.
Ulrich von Pendragon hatte den Pakt mit dem Teufel geschlossen, und der geforderte Preis war, dass er bald selbst nicht mehr seine eigene Wahrheit kannte, dass er sich zu oft wie jener Dr. Jekyll in Mr. Hide verwandelt hatte beim Verfassen seiner Artikel, um noch jederzeit zurückkehren zu können in das andere Leben. Ja, es geschah immer häufiger, dass er während des Schreibens das, was er gerade zu Papier brachte, selber für wahr hielt.
Und noch einen anderen Preis hatte er zu zahlen: Reichte es anfangs, dass er ein Pseudonym nutzte, um den wahren Autor zu verbergen und zu schützen, so wurde es zunehmend notwendig, auch sich selbst, sein Aussehen, seine ganze Erscheinung dem jeweiligen Inhalt, und damit auch dem jeweiligen Auftraggeber,