„Die Sache mit Philippe ist wesentlich komplizierter als du annimmst.“ Lotti strich sich eine Strähne aus der Stirn.
„Was kommt jetzt? Eine weitere Lüge? Vielleicht die, dass ihr von Françoise erpresst werdet?“
In Lottis Augen flackerte etwas auf. „Akzeptiere es einfach und alles ist gut“, fuhr sie ihr über den Mund. „Heiraten musst du so oder so.“
„Gut, dein Wunsch ist mir Befehl. So lange es nicht Philippe ist.“
„Auch darüber wird nicht mehr diskutiert.“
„Großmutter, das kannst du nicht von mir verlangen. Ihr alle nicht!“
„Wir können und wir werden“, zeigte sich Lotti ungerührt.
Henriette starrte sie fassungslos an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Schloss rannte. Regen peitschte ihr ins Gesicht, als sie auf den Wald zulief. Der Wind riss an ihrem zinnoberroten Kleid. Ein tiefhängender Zweig am Waldrand streifte sie an der Wange und hinterließ einen brennenden Schmerz. Doch Henriette rannte weiter, ohne ein Ziel zu haben. Sie wollte fort, möglichst weit fort, weil sie es in der Nähe ihrer Familie nicht mehr aushielt.
5. Kapitel
Paris
In der Badestube – die sich in der Rue de Fossés Saint–Germain befand – dampfte es. Die Spiegel waren beschlagen und es herrschte eine große Hitze. Louis saß auf der untersten Schwitzbank und lehnte mit dem Rücken an der warmen Mauer. Schweißtropfen rollten von seiner Stirn und traten aus jeder Pore seiner Haut. Er beugte sich zum Eimer mit kaltem Wasser hinunter, der zwischen seinen Füßen stand, und tauchte die Hände hinein. Sein silberner Ehering blitzte auf.
Unwillig lauschte er dem philosophischen Gespräch von Denis und Voltaire, der sie in die Badestube eingeladen hatte. Meistens war sie überfüllt, aber Voltaire hatte dem Bader viel Geld bezahlt, damit sie unter sich waren. Hier konnten sie nach Lust und Laune über verschiedene Dinge diskutieren. Selbst Ludwig beschimpfen, ohne bespitzelt zu werden wie nebenan im Café Procope. Es war ein offenes Geheimnis, dass dort Spione des Königs Gespräche belauschten, denn es traf sich ein buntes Volk an Künstlern, Dozenten, Gelehrten, Freimaurern und Politikern. Nicht selten kam es zu Verhaftungen. Um dem zu entgehen, boten sich geheime Treffen wie dieses an.
Voltaire hatte es zu einem bescheidenen Vermögen gebracht, hielt sich jedoch selten in Paris auf und war ein Lebenskünstler, der schon einige Male auf der Flucht, in der Verbannung oder in der Bastille gewesen war. Bereits in jungen Jahren hatte er sich für Theater und Literatur begeistert, aber sein Vater wollte einen Juristen aus ihm machen. Voltaire hatte sich gefügt, ein Studium begonnen und einige Zeit in Caen und Den Haag gearbeitet. Doch heimlich hatte er sich weiterhin der Kunst gewidmet und sich in seine ´Pimpetteˋ verliebt, wie er die junge Hugenottin noch heute nannte. Voltaire, der das Leben ebenso leidenschaftlich füllte wie leeres Papier, hatte sie damals sogar entführen wollen. Doch bevor es dazu kam, war er nach Hause diktiert worden und nach einigem Hin und Her hatte der Vater akzeptiert, dass er kein Mensch für trockene Gesetzestexte, Satzungen oder Klauseln war. Seitdem konzentrierte sich sein Freund voll und ganz auf sein künstlerisches Dasein und war bekannt für beißende Texte, die ihm ständig neue Feinde bescherten, aber genauso viele Anhänger.
Louis hob die Hände aus dem Wasser und fuhr sich über Gesicht und Nacken. Im selben Augenblick fiel etwas klappernd zu Boden. Als er einen Wehlaut hörte, sprang Louis hoch und prallte prompt gegen die obere Bankkante. „Verdammt“, fluchte er.
„Keine Angst, ich habe alles im Griff“, drang Diderots Stimme zu ihm, der sich mit Voltaire hinter der Nische befand, wo die Wanne mit kaltem Wasser stand.
„Ich meinte nicht dich, du Idiot.“ Louis rieb sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf und setzte sich wieder auf die Bank. „Ich habe mir wehgetan.“
„Nicht nur du“, beklagte sich Diderot.
Voltaires Lachen erschallte, der kurz darauf hinter der Nische hervortrat und sich neben Louis niederließ. „Ihr habt wohl beide einen schlechten Tag, was?“, mokierte er sich in seiner spöttischen Art und Louis fragte sich, ob auch er irgendwann Opfer seiner hämischen Essays oder Gedichte werden würde. „Du bist ziemlich still heute“, wurde Voltaire ernst, zog geräuschvoll Schleim aus dem Schlund und spuckte aus. Dann schob er den Eimer zu sich und tauchte den rechten Fuß hinein. Das Wasser schwappte über und umspülte Louis’ Zehen.
„Dafür redet ihr zwei umso mehr“, warf Louis mürrisch ein.
„Das hat dich bisher nie gestört.“
„Dann stört es mich eben heute.“
„Du liebe Zeit, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Voltaire schüttelte den Kopf. Sein langes Haar war nass wie sein nackter Körper. „Im Übrigen hindert mich schlechte Laune beim Denken.“
„Wieso? Hast du ein neues Opfer im Auge, das du beleidigen willst? So wie Dianas Vater?“
„Wie kommst du ausgerechnet auf ihn?“, wunderte sich Voltaire, der ein dickes Fell zu haben schien. Andererseits, wer austeilte musste auch einstecken können. „Aber du hast recht, dein Schwiegervater und ich waren nicht gerade Freunde. Dasselbe gilt für König Ludwig. Er hat mir vorige Woche verboten, je wieder sein Schloss zu betreten.“ Voltaire lachte und lehnte sich zurück. „Na ja, er wird sich wieder beruhigen. So war es immer, und so wird es immer sein. Dein Schwiegervater war in dieser Hinsicht allerdings um einiges starrköpfiger.“
„Wundert dich das? Deine Gedichte waren manchmal schärfer als jede Waffe.“ Wiederholt fragte sich Louis, ob sein Schwiegervater Diana dasselbe angetan hatte wie ihrer – im Volk als ´Messalinaˋ bekannten – Schwester. Angeblich hatte er Stunden in Messalinas Kammer verbracht, sobald sie kränkelte, und nicht nur dann. Das gab Voltaire viel Pulver für schlüpfrige Gedichte. Einer der Gründe für die Verbannung aus Paris.
„Trotz allem hast du eine jährliche Sondervergütung von meinem Schwiegervater erhalten und bewegst dich wie selbstverständlich in Adelskreisen“, kramte Louis in Voltaires Leben, der sich keinen Deut um Konventionen scherte. „Man hat einige deiner Werke zensiert, die du postwendend unter falschem Namen veröffentlich hast. Außerdem pflegst du eine jahrelange Freundschaft mit der einflussreichen Marquise de Prie. Sie protegiert dich, wo sie kann, und hat dir sogar den Zugang zum Hof ermöglicht. Dann wiederum hast du Chevalier de Rohan diffamiert, der dich zusammenschlagen ließ, bist in der Bastille gelandet und nach deiner Freilassung nach England ausgewandert.“ Der Bader legte ein paar Holzscheite in den Ofen, der sich in ihrer Nähe befand. Ein Heißwasserkessel stand darauf. „Du bewunderst die Engländer für ihren Fortschritt, hast dir dort einen Namen gemacht, sogar die Sprache gelernt und …“
„Ich bin nach wie vor fasziniert von diesem Land“, fiel Voltaire ihm ins Wort. „Die Willkür des Königs und des Adels sind eingeschränkt, der Glaube gehört nur einem selbst und die Wirtschaft ist bemerkenswert.“ Voltaire hob seinen Fuß aus dem Wasser. Die Haut war runzlig wie ein verschrumpelter Apfel. Wohlig seufzend streckte er die behaarten Beine neben dem Eimer aus. „Aber was willst du mir eigentlich sagen? Ich kenne mein Leben. Du musst es mir nicht haarklein erzählen.“
„Du scherst dich um gar nichts. Sogar der Kerker juckt dich nicht. Hast du eigentlich etwas daraus gelernt?“
„Oh, nein.“ Voltaire rückte von ihm ab und hob abwehrend die Hände. An den Kuppen der Zeigefinger und Daumen hatte er eine dicke Hornhaut. „Machst du dir etwa Sorgen um mich, mein Freund?“
„Manchmal sollte man lieber den Mund halten.“ Louis überlegte kurz. „Würdest du wegen einer guten Geschichte auch unsere Freundschaft vergessen?“