Bei den Worten ihrer Mutter verschluckte Luise sich dermaßen an dem Tee, dass die einen Hustenanfall bekam, der ihr Tränen in die Augen trieb. Als sie wieder Luft holen konnte, schüttelte sie ihren Kopf und bedachte Minna mit einem tadelnden Blick. »Also Mutter!« Insgeheim wusst Luise, dass die Frau, der sie ihr Leben verdankte, Recht hatte. Im Unterricht wurde von der Pflicht der Frau gesprochen, gemeinsam mit ihrem Mann reinblütigen Nachwuchs zu zeugen und so die Rasse und die Volksgesundheit der Deutschen zu stärken. Über die Details hatte die Lehrerin freilich nicht so viel erzählt, aber in den Pausen wussten einige ihrer Klassenkameradinnen zu berichten, wie es war, einen jungen Mann zu küssen. Oft hatte sie sich gefragt, welche Dinge wohl nötig wären, ein Kind auf den Weg zu bringen. Ihr war jedoch nie der Gedanke gekommen, zu diesem Thema ihre Mutter zu befragen.
Minna drehte die Lautstärke des Transistorradios nach oben. Der Nachrichtensprecher war gerade dabei, von der Invasion der deutschen Truppen in Griechenland und im Königreich Jugoslawien zu berichten. Vor zwei Tagen hatte mit dem Luftangriff auf Belgrad der Balkanfeldzug begonnen. Während die Stimme im Radio von den siegreichen deutschen Truppenverbänden sprach, die von ihren italienischen und ungarischen Alliierten bei den Gefechten unterstützt wurden, entglitten Minnas Gesichtszüge. »Ob es deinem Vater wohl gut geht?« Mit zitternden Fingern griff sie nach der Teetasse. »Wenn doch nur endlich ein Brief eintreffen würde.«
»Es ist ihm bestimmt nichts passiert. Wahrscheinlich braucht die Feldpost nur ein wenig länger, um die Kampflinien zu umgehen.«
»Ich hoffe, du hast Recht, mein Schatz.«
Für eine Weile schwiegen die beiden Frauen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach, als die Nachrichtenübertragung beendet war und Ilse Werner von Küssen im Mondenschein sang.
Seufzend erhob sich Minna. Sie zog den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte, in die Mitte der Küche. »Zieh das Kleid an und stell dich hier drauf!« Sie half ihrer Tochter, das Hochzeitskleid aus der Umhüllung zu schälen, und schloss das Mieder am Rücken, nachdem Luise es angezogen hatte. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass mein Brautkleid so viele Knöpfe hatte. Die oberen muss ich auflassen. Es ist so, wie ich es mir schon gedacht habe. Es ist obenrum zu eng.« Minna trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre Tochter nicht ohne Stolz. »Du siehst wunderschön aus! Dreh dich mal!«
Luise tat, wie ihr geheißen. Ihr Blick glitt an dem elfenbeinfarbenen engen Spitzenmieder herunter, das ihre schmale Hüfte betonte. Ein Traum aus Tüll, der von einer Lage aus feinster Spitze bedeckt wurde, umspielte in verschwenderischen Bahnen ihre Beine.
»Ich wünschte, dein Vater könnte dich jetzt so sehen.« Tränen liefen Minna die Wangen herunter. »Er wäre so stolz auf dich.«
Nun weinte auch Luise. Sie stieg vom Stuhl, um ihre Mutter zu umarmen. »Meinst du?«
Unfähig, ein weiteres Wort hervorzubringen, nickte Minna nur.
»Glaubst du, er würde Ernst mögen?«
Die ältere der beiden Frauen tupfte mit dem Saum ihrer Schürze, die sie noch immer nicht abgelegt hatte, ihre Augen trocken. »Dessen bin ich mir sicher. Na komm, kletter wieder auf den Stuhl, dass ich das Kleid noch abstecken kann.« Sie griff nach einem Bündel Nadeln und klemmte es sich bis auf eine, die sie in der Hand behielt, zwischen die Lippen. Dann machte sie sich eifrig ans Werk. Mit geschickten Fingern schob sie eine Stecknadel nach der anderen in den Stoff und summte zu den Klängen aus dem Radio.
Kapitel 3 - Mühlhausen, 25. Mai 1941
Luise saß auf dem Bett, eingehüllt in eine Wolke aus Tüll und Spitze. Nun war es also soweit. Der Pfarrer hatte ihnen am Mittag nach dem Gottesdienst in der Petrikirche den Segen der evangelischen Kirche erteilt. Nun waren Luise und Ernst Schramm auch vor Gott Mann und Weib.
Vorgestern, am Freitag, dem Tag nach Christi Himmelfahrt, hatten sie bereits im Rathaus in Anwesenheit einer Standesbeamtin, ihrer Mutter und der Oma von Ernst den Bund der Ehe geschlossen. Für die beiden war dieser Akt staatlichen Rechts jedoch nur eine Formalität. Erst am heutigen Tag, mit ihrer kirchlichen Hochzeit, fühlte sich Luise wirklich verheiratet.
An diesem wundervollen Frühsommertag schien die Welt vollkommen in Ordnung. Einzig die Abwesenheit Friedrich Seidenstückers, Luises Vaters, erinnerte die junge Frau und ihre Mutter daran, dass Deutschland sich eigentlich im Krieg befand. Noch immer war kein Brief von ihm eingetroffen, sodass die beiden das Schlimmste befürchteten. Aber solange sie gar keine Nachricht erhielten, konnten sie zumindest hoffen.
Die Braut schob die düsteren Gedanken beiseite. Schließlich sollte heute doch der glücklichste Tag ihres bisherigen Daseins sein.
Die Trauungszeremonie war schlicht und sehr ergreifend gewesen. Die beiden wichtigsten Menschen im Leben der Brautleute hatten sich damit abgewechselt, in ihre Taschentücher zu schniefen. Oma Schramm weinte auch noch, als sie die Hochzeitstorte im Haus der Seidenstückers anschnitten, und abermals, als sie sich nach dem Abendessen verabschiedete. Elsbeth und Gustav nahmen es auf sich, die alte Dame nach Hause zu bringen, während Luise und Ernst sich nach oben in das Schlafzimmer der Braut zurückzogen.
Das frischvermählte Ehepaar war zu dem Entschluss gekommen, bis zur Rückkehr von Friedrich Seidenstücker im Haus in der Schaffentorstraße zu wohnen. Luise hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihre Mutter hier allein zu lassen. Beiden Frauen fiel ein Stein vom Herzen, als Ernst so reibungslos eingewilligt hatte. Nun war er im Badezimmer und putzte sich die Zähne, was der Braut irgendwie unwirklich vorkam.
Seit März hatten sich die Ereignisse in schwindelerregender Art und Weise überschlagen. Niemals im Traum wäre Luise eingefallen, dass sie kaum zwei Monate nach dem unerwarteten Antrag tatsächlich verheiratet sein würde.
Sie sah sich in dem Zimmer um, in dem sie aufgewachsen und das ihr so vertraut war. In der Ecke stand ein riesiger Überseekoffer, in dem Ernst das Nötigste zum Anziehen mitgebracht hatte. Auf einem Beistelltischchen neben dem großen Eichenholzschrank hatte er sein Grammophon aufgestellt, dessen silberner Trichter in den Raum ragte. Eine Auswahl an Schallplatten lag daneben und wartete darauf, abgespielt zu werden. Sie war sich sicher, dass unter ihnen wenigstens eine Grammophonplatte mit Liedern von Enrico Caruso, dem Lieblingssänger von Ernst, zu finden sein würde. Als sie darüber nachdachte, die Sammlung durchzusehen, öffnete sich die Tür und der Bräutigam schlüpfte herein.
Mit einem entwaffnenden Lächeln und glänzenden Augen ging er vor Luise auf die Knie. »Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist? Ich bin der glücklichste Mann auf der ganzen Welt!«
Die Braut beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich. »Ich kann mein Glück auch noch gar nicht fassen.« Etwas ängstlich blickte sie zu ihm herab.
Ernst bemerkte das. Er griff nach ihren Händen. »Meine Güte, deine Finger sind ja eiskalt!«
Verlegen versuchte Luise, ihrem Mann die Hände zu entziehen. »Es ist nur ...« Eine flammende Röte stieg ihr am Hals auf und brannte kurz darauf in ihrem Gesicht.
»Aber du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Ich würde dir nie im Leben weh tun. Das habe ich auch zu deiner Mutter gesagt.«
Entsetzt riss die junge Braut die Augen auf. »Wie bitte, meiner Mutter ...?«
Ernst stand auf und setzte sich neben Luise auf das Bett. »Heute Morgen vor der Trauung hat sie mich aufgesucht und mir unmissverständlich klar gemacht, dass sie mich umbringt, wenn ich dir weh tue und das Herz breche.«
»Sie hat was ...?«
Lachend legte er den Arm um seine Angetraute. »Sie meinte, sie würde mir die Eingeweide