Mit hysterischem Lachen richtete sich die Frau plötzlich zu voller Größe auf. „Ja, mein Meister! Der hat gesagt ich soll sie alle töten!“, rief sie und hüpfte begeistert von einem Bein aufs andere, gleich einem jungen Vogel.
Entsetzt registrierte Azur die Wandlung, die sich in Sekundenschnelle an der alten Frau vollzog. Eben noch zu einem einzigen Häufchen Elend zusammengekauert, begann sie nun, aus voller Kehle zu singen.
„Ich lieh dem Meister mein Gesicht und seine Kraft erfüllte mich! Die dunkle Macht, er teilt sie gern, drum huldigt unserem neuen Herrn!“ Sie jubelte, klatschte, sprang in ihrem Gefängnis umher und wiederholte die Verse immer wieder. „Drum huldigt unserem neuen Herrn!“
Gleich einem zielsicheren Schlag in den Bauch, überfiel Azur Übelkeit. Ob es am Gestank des Kerkergewölbes lag oder am Schrecken, vermochte sie nicht zu sagen.
Alec, der sie genau beobachtet hatte, um ihre Reaktion zu deuten, fragte: „Geht es dir nicht gut?“
Azur fixierte angestrengt die Umrisse der Alten, die langsam vor ihren Augen verschwammen.
„Da hast du es, Mädchen. Das hat sie schon getan, als unsere Soldaten sie gefasst und hier eingesperrt haben. Es hat zwanzig Mann in voller Rüstung gebraucht, um sie zu bändigen. He, alte Hexe! Von welchem Meister sprichst du?“, rief Darius und der Schall schmerzte in Azurs Ohren, so wie das höllische Quietschen, das die Gefangene jetzt ausstieß.
„Das werdet Ihr früh genug erfahren, mein König, früh genug, denn er wird kommen und dann werde ich wieder frei sein! Ich lieh dem Meister mein Gesicht…“
Azur taumelte rückwärts und stützte sich an der kalten, feuchten Wand ab, um nicht zu fallen. Wie aus weiter Ferne nahm sie Alecs besorgte Stimme und den lauter werdenden Gesang wahr. Doch dieser ging nicht mehr nur von der alten Frau aus, er schien aus tausend Mündern zu kommen. „Huldigt unserem neuen Herrn! Huldig unserem Meister!“
Die Wand begann zu bröckeln, der Boden unter ihr bebte. Die Stimmen kreischten – ein Chor aus monströsen Kreaturen, die im Schatten des Kerkers lauerten und mordlustig mit den Flügeln schlugen. Azur riss den Mund auf, um zu schreien, doch anstatt, dass ein Hilferuf ihn verlassen hätte, füllte ihr Mund sich mit einer Flüssigkeit, die schwer an ihrem Gaumen klebte. Der metallische Geschmack auf ihrer Zunge versetzte sie in Panik. War das Blut?
Sie beugte sich vorn über und versuchte würgend, sich davon zu befreien, doch es hatte die Konsistenz von Teer. Es setzte sich schwer auf ihre Zunge, umhüllte ihren Gaumen und gab ihr das Gefühl, ersticken zu müssen.
Alec rüttelte sie eine Spur zu kräftig. Unterdessen bestürmte er sie mit besorgten Fragen. Azur hörte nichts über die kreischenden, lallenden Stimmen hinweg, die in ihrem Kopf ertönten. Sie schnappte nach Luft. Das Blut klebte in ihrer Kehle.
„Der Meister ist hier!“, flüsterte die alte Frau ehrfürchtig und sank auf die Knie. „Ich spüre es. Mein Herr, ich bin hier, ich bin hier! Befreit mich, damit ich Euch zu Diensten sein kann!“
Azur riss den Mund auf, als wolle sie schreien. Kurzerhand hob Prinz Alec sie hoch, um sie die Treppen hinauf zu tragen, fort von hier. Darius` Blick haftete wie gebannt an seiner Gefangenen, die euphorisch in die Hände klatschte, nach ihrem Meister rief – und plötzlich, wie von einem Pfeil getroffen, leblos zu Boden sank.
Azur stand auf einer Wiese, irgendwo am Horizont waren Berge zu erkennen. Ein Wind, schon fast ein Sturm, zerrte an ihren Kleidern. Als Azur den Blick senkte, bemerkte sie, dass sie ganz in Schwarz gekleidet war. Etwas drückte ungewohnt auf ihren Kopf und wie ihre Hand nach dem tastete, was ihn erschwerte, fühlte sie das kalte Metall einer Krone.
Ihr blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern. Von Weitem hörte sie das Donnern unzähliger Hufe, während sich ein Schatten über der Wiese ausbreitete. Ein schwarzer Koloss schob sich wie ein schwarzer Teller langsam vor die Sonne. In der Ferne tauchten Pferde auf, deren Hufe das anschwellende Donnergrollen verursachten, beritten von einer Horde Kriegern, und in diesem Moment wurde Azur klar, dass sie nicht auf dieser Wiese stand, um ein Naturschauspiel zu beobachten. Sie stand mitten auf einem Schlachtfeld – und aus einem unbestimmten Grund wusste sie, dass kein Einziger dieser Krieger zu seiner Familie zurückkehren würde.
An ihrer Spitze ritt Alec in einer goldenen Rüstung. Azur winkte und wollte ihm zu verstehen geben, er solle umkehren, aber er schien sie gar nicht wahrzunehmen. Zwar schaute er in ihre Richtung, aber seine Augen waren leer und in die Ferne gerichtet.
Unvermittelt spürte sie eine Hand auf der Schulter und fuhr herum. Hinter ihr stand die Frau aus dem Kerker mit einem verklärten Lächeln auf den blutigen Lippen. „Der Meister ist hier.“, flüsterte sie und hauchte Azur ihren fauligen Todesatem mitten ins Gesicht.
Prinz Alec war bei ihr, als Azur erwachte. Sie fror, war dennoch schweißgebadet und zuckte vor Angst am ganzen Körper. So etwas war ihr noch nie passiert und sie wollte es nicht noch einmal erleben. Alec hielt ihre Hand, die sich fest um seine krampfte, und blickte sie aus seinen tiefbraunen Augen besorgt an.
Im Gegensatz zu seinem Vater besaß er ein Gesicht mit sanften, klaren Konturen, das die Schönheit seiner Mutter erahnen ließ. Er nahm den Lappen von Azurs Stirn, tränkte ihn in warmes Wasser und legte ihn wieder dahin zurück, wo er gebraucht wurde.
„Bringt ihr etwas zu trinken.“, wies er ein paar Bedienstete an. „Und eine Decke. Und etwas frisches Obst!“
Azur fühlte sich schäbig. „Ein Königssohn sollte sich nicht um eine Unwürdige sorgen.“, formte ihr Mund, doch Alec verstand nicht. Er redete ihr leise und beschwichtigend zu, sagte, dass sein Vater jeden Moment zurückkehren müsse.
Bald darauf flog die Tür auf und König Darius polterte in den Raum, begleitet von einem Greis mit schlohweißem Haar, das nach allen Seiten abstand. Er war ärmlich bekleidet, strahlte aber eine Würde aus, die nicht mit seinem äußeren Erscheinungsbild konformging. Sein Lächeln gab den Blick auf zwei Zahnreihen frei, die sicher bessere Zeiten erlebt hatten.
„Ach, das Mädchen mit dem blauen Haupte – du erinnerst dich bestimmt nicht mehr an mich?“
Schüchtern schüttelte sie den Kopf. Sie hätte schwören können, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht entsinnen, wo.
„Kein Wunder, damals warst du noch ein kleines Kind. Du lagst wie ein alberner Trotzkopf im Arm deiner Mutter und hast dich geweigert, mich anzublicken.“
Man sagt, dass ein junges Mädchen die Zeit seiner Kindheit lange im Gedächtnis behalten könne, doch was ihre Mutter betraf, waren Azurs Erinnerungen nahezu ausgelöscht. Wie gern hätte sie sich ein Bild von der Frau gemacht, die ihr Vater noch immer so schmerzlich liebte. Angeblich sei sie vor vielen Jahren an einer unheilbaren Krankheit gestorben, als Azur gerade sieben Jahre alt gewesen war. Das verband sie auf eine allzu menschliche Art mit Prinz Alec, dessen Mutter seine Geburt nicht überlebt hatte. Das Land war danach drei Jahre lang in Trauer versunken.
„Damals“ begann er und setzte sich an den Rand des Lagers, auf das man Azur gebettet hatte „war deine Stimme noch nicht verstummt. Sie hatte Kraft genug, um mir andauernd dazwischen zu quengeln, als ich die Prophezeiung aussprach. Ja, ich bin derjenige, der sah, dass du das Land vor seinem Untergang erretten wirst.“
„Ich hoffe sehr, dass du ein bisschen genauer werden kannst, Allan.“, sagte König Darius und schilderte die grauenvolle Mutation der alten Frau, die Azurs Ohnmacht ausgelöst hatte, nun so genau wie möglich. „Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.“
Azur lauschte und überlegte gleichzeitig fieberhaft, wie sie den sonderbaren Traum, den sie gehabt hatte, beschreiben sollte. Sie richtete sich auf, tippte Allan an und probierte es mit verschiedenen Gesten, die auf ihren Kopf hindeuteten, während sie die Augen geschlossen hielt. Darius beugte sich ebenfalls über sie und blickte sie ratlos an. „Ich fürchte sie hat den Verstand