Die Sonne über Seynako. Sheyla McLane. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sheyla McLane
Издательство: Bookwire
Серия: Seynako & Peiramos
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752420
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die preschenden Hufe und das Knarzen der Kutsche hinweg. „Es ist das am weitesten nördlich gelegene Dorf Seynakos. Vielleicht finden wir dort Hinweise zu den seltsamen Vorkommnissen.“

      Als die Kutsche endlich hielt und Azur ausstieg, dankbar dafür, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, taumelte sie zunächst ein paar Schritte, ehe sie sich wieder an das Gefühl gewöhnte, ihre Bewegungen selbst koordinieren zu können. Von der wilden Fahrt war ihr noch ganz schwindelig.

      Besorgt umfasste Alec ihre Schultern, damit sie nicht fiel. „Ist alles in Ordnung, Azur?“

      Allan nickte ihr aufmunternd zu, seine kurzen, weißen Haare standen noch wirrer ab als sonst. Es war ihr unangenehm, dass die beiden ihr so viel Aufmerksamkeit schenkten, doch sie kam nicht dazu, heiße Wangen zu kriegen. Fast zeitgleich sahen sie sich um und erschauderten.

      „Allan? Bist du sicher, dass wir… ich meine, dass wir hier richtig sind?“ Alecs Stimme war so flau wie Azur sich fühlte. Dieser Teil des Landes wirkte wie ein abgetrenntes Körperteil Seynakos. Der Himmel war grau, die wenigen Häuser sahen abweisend und ungepflegt aus und waren von riesigen, knorrigen Bäumen mit dichtem Blätterwerk umgeben, die weite, dunkle Schatten warfen, was den Eindruck erweckte, als sei der Boden hier von Abgründen zerklüftet.

      „Seht nur.“ Allan deutete in Richtung der Felder, die kümmerlich und winzig aussahen im Vergleich zu den weiten, sattgoldenen Äckern, die Azur vertraut waren. Dahinter türmte sich eine gigantische Nebelwand auf. „Das ist die Grenze.“, erklärte Allan mit gesenkter Stimme. „Dahinter liegt das Feoras-Gebirge, das unsere Länder Seynako und Peiramos trennt. Nur wenige von denen, die sich bis dahin vorgewagt haben, sind lebendig wieder zurückgekehrt. Und keinem ist es jemals gelungen, die andere Seite zu erreichen.“

      Alec kniff die Augen zusammen. „Mein Vater hat mir manchmal davon erzählt, als ich noch ein kleiner Junge war.“, sagte er.

      Der Nordwind trug hier und da Nebelschwaden über das Feld bis zu den Häusern, wo sie sich im Nichts auflösten. Azur sah zu der Wand aus scheinbar undurchdringbarem Nebel hinüber, die sie mit einer Mischung aus Beklemmung und Anziehung erfüllte. Die Luft war durchtränkt von einer diffusen Bedrohung, die Azur in den Ohren flirrte und schwer auf ihre Lungen drückte. Es war, als greife etwas nach ihrem Herzen. Ein geheimnisvoller Zauber lag über der Grenze wie leiser, ferner Gesang – klar und deutlich, und doch war sie nicht sicher, ob er zur Wirklichkeit gehörte. Trotz ihrer Furcht schien ihr der Ruf des Nebels auf seltsame Weise vertraut. Die weißen, tanzenden Schwaden starrten sie an. Azur fühlte sich beobachtet.

      „Scheint als wäre unsere Ankunft nicht unbemerkt geblieben.“, raunte Allan. Hinter den blinden Fenstern der Häuser tauchten Gesichter auf, in denen sich Neugier und Misstrauen spiegelten. Eine Tür wurde aufgestoßen und eine Frau erschien. Sie winkte. Unsicher folgten Alec und Azur dem Seher, der die Geste der Fremden erwartet zu haben schien.

      Die Frau verbeugte sich vor jedem von ihnen und bat sie mit ehrerbietigen Gesten herein. Ihr Heim war einladender, als es sich von außen den Anschein gab. Auf einer Bank lagen Felle ausgebreitet, auf dem Tisch stand ein dampfender Topf mit Suppe und die Wärme des Kaminfeuers sandte ihnen einen wohligen Schauer über die fröstelnden Glieder. Ein kleiner Junge, der gedankenverloren mit einer Holzpuppe spielte, hockte vor dem Ofen. „Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem Haus willkommen heißen zu dürfen. Nehmt bitte inzwischen Platz.“, sprach sie und verschwand in einem Nebenzimmer.

      Während Allan es sich in dem einzigen Sessel bequem machte, standen der Königssohn und Azur unschlüssig auf der Schwelle. „Seid freundlich zu ihr und achtet auf eure Wortwahl, diese Frau hat fast alle ihrer Kinder verloren.“, mahnte der Seher leise.

      Im nächsten Moment kam sie schon mit ein paar Schüsseln auf dem Arm wieder zurück. „Nehmt bitte Platz, wenn es Euch beliebt.“, wiederholte sie und bedachte Azur mit einem verschämten Lächeln. Sie fühlte sich nicht ganz wohl dabei, das Mädchen mit dem blauen Haupt persönlich im Haus zu haben und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „Man sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen?“, fragte sie, als alle am Tisch saßen. „Und… Ihr wüsstet, was mit meiner Tochter geschehen ist?“

      Allan schlürfte bedächtig einen Löffel Suppe. „Darf ich fragen, wie es Eurem Mann geht?“

      „Der Medikus hielt es für das Beste, ihn vorerst bei sich zu behalten. Er besaß die Güte, ein Zimmer in seinem eigenen Haus freizumachen. Seine Verletzungen sind… schlimm. “ Sie unterbrach sich und schluchzte leise.

      „Ich weiß, es ist schwer für Euch, aber sicher wäre es hilfreich, wenn Ihr uns schildern würdet, was genau passiert ist.“, sagte Allan.

      Die Frau, die den kleinen Jungen auf ihren Schoß gesetzt hatte, seufzte schwer und senkte den Blick. „Ich will es versuchen. Erst meine Mutter und dann noch… meine süße Irina.“ Schnell wischte sie eine Träne fort. „Vor wenigen Wochen waren mein Mann und meine drei ältesten Söhne draußen mit der Feldarbeit beschäftigt, während Mutter, Irina und ich in der Küche das Mittagessen zubereiteten. Plötzlich schwankte meine Mutter und sagte, sie fühle sich schwach und fiebrig. Wir führten sie hinaus an die frische Luft, wo sie sich setzte und tief durchatmete. Sie versicherte uns, es gehe ihr schon besser, wir sollten uns keine Sorgen machen und uns weiter um das Essen kümmern. Als wir ein paar Minuten später nach ihr sehen wollten, war sie auf einmal ganz verändert. Sie sprach davon, dass jeder seine Bestimmung habe und bat mich, zum Bader zu gehen und Medizin gegen ihre Schmerzen zu holen. Sie war schon sehr alt, seht Ihr, und ich habe mir Sorgen um sie gemacht, ich konnte doch nicht ahnen, dass…“ Ihre Stimme versagte und sie drückte das Kleinkind fest an ihre Brust.

      Azur tauschte einen schüchternen Blick mit Alec, nicht sicher, ob sie die Geschichte bis zum Ende hören wollte.

      „Schon gut, meine Liebe.“, beschwichtigte der Seher die Frau. „Erzählt doch bitte weiter.“

      Sie nickte und fuhr fort: „Was soll ich noch sagen? Als ich zurückkam, hörte ich von Weitem schon die Schreie. Unsere Nachbarn waren in heller Aufregung und liefen um das Haus herum, aber keiner getraute sich, hineinzugehen. Ich war es schließlich, die die Tür öffnete. Diesen Anblick… werde ich nie vergessen, so lange ich lebe.“ Bei der Erinnerung rannen Tränen über ihre Wangen, doch sie war zu ausgebrannt, um noch richtig weinen zu können. „Meine Mutter stand mitten im Raum. Und überall, ja überall war Blut.“, berichtete sie, während sie ihren kleinen Sohn mit nervösen Bewegungen wiegte.

      Unwillkürlich ließ Azur ihren Blick über den Boden schweifen. Dort, wo das Holz der Dielen kleine Ritzen hatte oder sehr uneben war, konnte man noch die eingetrockneten Rückstände des Massakers erkennen. Übelkeit stieg in ihr auf.

      „Sie hielt das lange Küchenmesser in der Hand und lachte hysterisch, ohne mich wahrzunehmen. Sie rief nach jemandem, ich weiß nicht mehr…“

      „Nach ihrem Meister?“, fragte Alec unruhig, der den Ausgang der Geschichte schon erahnte.

      „Ja, genau das war es. Sie rief, dass sie ihre Aufgabe erfüllt habe und für seine weiteren Befehle offen sei. Aber auf einmal… brach sie zusammen, begann zu weinen und… wusste nicht mehr, was geschehen war. Meine drei Söhne… sie waren tot. Nur der kleine Simon hier hat überlebt, weil Irina sich mit ihm in einem alten Schrank auf dem Dachboden versteckt hatte.“ Sie gab dem Kind einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Mein Mann wurde sehr schwer verletzt, sodass in den letzten Tagen nur Irina, Simon und ich auf dem Hof waren. Meine Tochter hat in dieser Zeit sehr schwer schuften müssen, aber was hätte ich denn machen sollen? Allein ist die viele Arbeit ja nicht zu schaffen. Und jetzt, wo auch noch Irina weg ist…“

      Allan redete beruhigend auf die unglückliche Mutter ein, die ihr jüngstes Kind, das letzte, das ihr geblieben war, schützend in den Armen hielt und an sich drückte, während sie mit den Tränen und den grausigen Bildern vor ihrem inneren Auge kämpfte. „Gestern dann ist mein Mädchen plötzlich ganz unheimlich geworden. Sie schrie: ‚Da siehst du es, Mama! Der Meister hat mich schließlich auserwählt, zu ihm zu kommen!‘ Bitte, ich weiß wirklich nicht, was sie damit gemeint haben könnte.“

      Schon bei den letzten Sätzen hatte