In der ersten Vernehmung durch Polizeikommissar Monneret präsentierte Grynszpan eine andere Version, wonach er auf die Bitte um Aushändigung des wichtigen Dokuments, in dem es um “deutsche Geheimnisse” ginge, wie folgt reagiert haben will:” Ich rief aus: Du bist ein dreckiger Deutscher und im Namen von 12.000 gepeinigten Juden, hier ist das Dokument!” - Ich zog den Revolver, den ich in der Innentasche meines Rockes versteckt hatte, und schoss. In dem Augenblick, da ich die Waffe zog, erhob sich der Attaché` von seinem Sessel. Ich feuerte jedoch sofort alle Kugeln ab. Ich zielte in die Mitte des Körpers. Mein Opfer versetzte mir einen Faustschlag und verließ hilferufend das Zimmer. Ich blieb im Büro, wo ich unmittelbar danach verhaftet wurde. Im Büro warf ich meine Waffe weg.”
Hier ist schon nicht mehr von einer Beschimpfung des deutschen Legationssekretärs die Rede, dafür erwähnt Herszel, im Gegensatz zum ersten Verhör, dass er genau auf die Mitte des Körpers zielte.
Im Laufe der monatelangen Untersuchung wird der Attentäter noch häufig widersprüchliche Aussagen machen, doch in einem Punkt bleibt er sich treu, in der Angabe des Tatmotivs:” Ich habe aus spontaner Rache wegen der schikanösen Vertreibung meiner Eltern aus Deutschland gehandelt.” Zum Beweis führt er die Karte seiner Schwester Beile vom 31. Oktober 1938 aus Zbaszyn an. Zudem hat man bei seiner Verhaftung eine Abschiedskarte gefunden, geschrieben am 7. November im Hotel “Suez”, kurz vor dem Waffenkauf. Der in Deutsch verfasste Text lautet:”Meine lieben Eltern! Ich konnte nicht anders tun, soll G` tt mir verzeihen, das Herz blutet mir wenn ich von eurer Tragödie und 12 000 anderer Juden hören muss. Ich muss protestieren das die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun, entschuldigt mir. Hermann.”
Die sogenannte deutsche Zivilpartei, vertreten durch Prof. Grimm, leitet aus dem Inhalt der Karte ab, dass der Plan, einen solchen Abschiedsgruß zu formulieren, dem jungen Mann von dritter Seite nahegelegt worden sei, und zwar von der Seite, welche die Propaganda leitet. Das ist schon richtig , aber man denkt dabei natürlich nicht an die eigene, sondern an die der Franzosen. Bevor jedoch die französische Kriminalpolizei in einem ersten Verhör Herszel Grynszpan über die Motive der Tat vernehmen will, greift bereits die Deutsche Botschaft in die angelaufene Untersuchung ein. Eine halbe Stunde nach dem Attentat schickt sie ihren “Kanzler” Lorz in das Pariser Polizeikommissariat des Stadtteils “Invalides und Ecole Militaire”. Und nun läuft in der rue de Bourgogne ein höchst seltsames Justizgebaren ab. “Ich bat den Kommissar, an den Vorgeführten einige Fragen richten zu dürfen, was er mir gestattete”, vermerkt dazu Lorz in seinen Aufzeichnungen vom 8. November 1938. Während der Deutsche den 17-jährigen Juden Herszel Grynszpan vorschnell in die Kategorie der fanatischen Juden einstuft, der französische Kommissar eher von einem “desequilibre” (Geistesgestörten) spricht, wittert die Presse der KP, namentlich die L` Humanite` , einen ganz anderen Hintergrund. Sie stellt die These in den Raum, ob hier nicht ein Fall von monströser Provokation zum Zwecke einer umfangreichen Verleumdungs-Kampagne gegen Frankreich hinsichtlich der Emigranten-Politik vorliege, die von Nazi-Deutschland gesteuert und in Paris inszeniert worden ist. Die Zeitung legt am 9. November den Finger auf die Wunde, als sie der zentralen Frage nachgeht, warum man dem Attentäter so ohne weiteres Einlass in die Deutsche Botschaft gewährt hat. “In welcher Eigenschaft kam er? Als persönlicher Freund? Als Spezialagent? Als Spion?“ So orakelt die L` Humanite`. Das sind zweifellos peinliche Fragen. Und das Blatt setzt noch eins drauf, in dem sie ihre Leser über ein Gespräch zwischen dem deutschen Botschafter Graf von Welczeck und dem französischen Innenminister Bonnet informiert, welches am Tage des Attentats gegen 16 Uhr stattfand. Im Verlaufe dieser Unterredung hätte der deutsche Diplomat seine Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, ob die Öffentlichkeit es nicht merkwürdig finden könnte, dass Herszel Grynszpan so leicht und ungehindert in das Büro des Herrn vom Rath einzudringen in der Lage gewesen wäre. Das gleiche Organ argwöhnt sogar, der Täter wäre wohl nicht das erste Mal in der Deutschen Botschaft gesehen worden, was getrost als Hinweis auf dessen nähere Bekanntschaft mit seinem Opfer gewertet werden sollte.
2. Kapitel: Das Opfer
Gustav vom Rath, der Vater des Opfers, gehörte einer alten, konservativ denkenden Adelsfamilie an, deren Karriere als Staatsbeamte stets vorgezeichnet war. Am 21. Februar 1879 in Düsseldorf geboren, studierte er später Jura in Heidelberg, Genua und Bonn. Im Jahre 1902 trat er als junger Rechtsanwalt in den Zivildienst ein. Die nächsten Jahre, mit Ausnahme der Militärzeit, arbeitete vom Rath in Danzig und von 1912 an in Köln. 1920 quittierte er den Staatsdienst, ging nach Breslau und übernahm dort die Leitung der familienbezogenen Zuckerfabrik.
Ernst vom Rath, ältester der drei Söhne, wurde am 3. Juni 1909 in Frankfurt am Main geboren. Er besuchte die Mittelschule zunächst in Frankfurt, dann in Breslau, wo er auch 1928 das Abitur ablegte. Anschließend studierte Ernst vom Rath an den Universitäten Bonn, München und Königsberg in der Fachrichtung Rechtswissenschaften. Nach erfolgreich bestandenem Examen war er vorübergehend als Gerichtsreferendar am Stadtgericht Zinter im Umkreis von Königsberg tätig. Sicher beeinflusst durch seinen Onkel Roland Köster, dem damaligen Botschafter der Deutschen Botschaft Paris, entschied sich Ernst vom Rath 1934 für eine diplomatische Laufbahn. Er begann als junger Zivilangestellter im Auswärtigen Dienst, bestand die geforderten Prüfungen und schloss ein sechswöchiges Training ab bei der Deutschen Botschaft Budapest. In Vorbereitung auf den sprachlichen Teil der Prüfung verbringt er den Sommer 1934 in Paris.
Am 13. April 1935 wird der junge Diplomat formell beim Außenministerium eingestellt