Ein großes, schweigendes Verlangen strömt heute aus Millionen Herzen. Diese Herzen sprechen im Schweigen: „Unsere Religion befriedigt uns nicht. Sie heilt die Kranken nicht. Sie gibt uns keine gesunden Körper. Wir wissen nichts Sicheres über unser künftiges Sein. Sie offenbart nichts Neues. Während der Predigt des Wortes geschehen keine Zeichen und Wunder. Unsere Freunde sterben einer nach dem andern. Das Grab schließt sich über ihnen, und wenn wir nach ihnen fragen, erhalten wir nur die althergebrachten, immergleichen Allgemeinheiten zur Antwort!“ — Dieses große, schweigende Verlangen entströmt Tausenden bei Tag und Nacht: eine mächtige, unsichtbare Kraft, die Ergebnisse zeitigt, mögen nun die Verlangenden darum wissen oder nicht. Denn wenn wir ein Ding, das wir verlangten, auch eine Zeitlang vergessen: die schaffende Kraft unseres Verlangens wird dadurch nicht gemindert und bringt uns endlich das Verlangte. Solches Verlangen ist in vielen lebendig, die kaum wagen, es sich einzugestehen. Wir versuchen oft, Gedanken und Sehnsüchte, die uns ergreifen wollen, abzuweisen. Aber sie kommen wieder und immer wieder. Sie wollen nicht abgewiesen sein, denn sie sind gebieterische Kräfte, die an unsere Türen pochen und Einlass begehren. Sie können so jahrelang zu uns kommen, ehe wir anderen gegenüber von ihnen sprechen. Ja, es kann geschehen, dass wir ihre erste wörtliche Bekanntschaft erst machen, wenn sie ein anderer ausspricht oder in einem Briefe, einer Zeitung, einem Buche mitteilt. Wir rufen dann voll Staunen: „Diese Gedanken denke ich ja schon seit Jahren!“ Und solch schweigendes Verlangen gibt allen Formen der heutigen religiösen Bekenntnisse eine tiefere Bedeutung und Erklärung. Diese Bekenntnisse wurzeln ja alle in der Wahrheit. Aber die Wahrheit steht nie stille. Sie wirkt immer mehr in die Breite und Tiefe und „macht alle Dinge neu“. Die Religion oder das Gesetz des Lebens wurzelt nicht wie der tote Pfosten im Erdboden in einer überlieferten Auslegung des Wortes Gottes. Die Religion ist wie ein Baum, der, ewig lebendig, ewig neue Zweige und Äste treibt.
Es gibt Befehle Gottes, die uns sagen: „Du sollst mehr von Mir wissen. Du sollst aufhören, einen Laut anzubeten. Du sollst Mich durch eine täglich sich erhöhende Bewunderung und Verehrung der millionen-und abermillionenfachen Wesensformen, in denen Ich Mich stofflich offenbare, anbeten. Verlange die Kraft von Mir, und Ich werde neue und immer neuere Sinne schaffen, die dich in Blättern und Bäumen, in Felsen und Steinen, in Sonne, Schnee und Regen neue Dinge und neue Entzückungen sehen und fühlen lassen werden. Ich will dich so veredeln, dass du der Mächte und Kräfte und aller schönen Dinge um dich herum, von denen du heute keinen Begriff hast, bewusst wirst. Ich will dir Macht über deinen Körper geben, so dass du ihn nie verlieren kannst, und Ich will dich erkennen machen, dass der letzte große Feind, der überwunden werden muss, der Tod ist!“
Jeder Mensch ist eine Offenbarung Gottes. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde. Wir müssen uns darum nicht zu Bettlern machen, wenn wir unseren Teil an Wissen, Kraft und Weisheit des Unendlichen beanspruchen. Wir beleidigen damit den Unendlichen. Wir vermindern die Kraft des Unendlichen, die durch uns wirkt. Denn Mangel an Ehrfurcht vor uns selbst ist Mangel an Ehrfurcht vor ebensoviel Gott, im Fleisch offenbart. Der blinde, zage Geist, der sich vor dem Höchsten erniedrigt, ist nicht wahrhaft ehrfürchtig. Wahre Ehrfurcht gründet sich auf die Fülle der Verehrung und Erkenntnis der wunderreichen, ewigen Kräfte und Eigenschaften im Höchsten. Je mehr wir nach dieser Erkenntnis und Verehrung verlangen, desto größer wird unsere Ehrfurcht vor dem endelosen Geiste, der da sagte und sagt: „ICH BIN, DER ICH BIN!“
Die Kraft aus der Sonne
Die große Quelle der Kraft und Erneuerung für Geist und Körper heißt Ruhe. Ruht der Geist, ruht der Körper gewiss.
Es gibt eine Wissenschaft der Ruhe. Etwas von dieser Wissenschaft besteht darin, sich gar keiner Sorge hinzugeben und das Denken von allen Dingen abzuziehen, die sonst unseren Geist am meisten beschäftigen mögen. So wird Erholung und Erneuerung lang gebrauchter oder übermüdeter Organe möglich.
Alle Dinge, die wir mit unseren physischen Sinnen wahrnehmen können, haben ihre Gegenbilder in der geistigen Welt. Und Elemente des Geistes sind es, die ihre wirkliche und eigentliche Kraft darstellen.
Die Sonne hat einen Geist, der auf uns und unsere Erde einwirkt. Es gibt eine Sonne, die wir mit leiblichem Auge nicht sehen und die wir mit keinem unserer leiblichen Sinne zu fühlen vermögen. Diese Sonne verhält sich zur physischen Sonne wie sich unser Geist zu unserem physischen Körper verhält.
Die physische Sonne wirkt auf unseren physischen Körper ein. Die geistige Sonne oder der Sonnengeist wirkt auf unser geistiges Wesen. Und zwar in dem Maße, als unser geistiges Wesen entwickelt ist, den Sonnengeist aufzunehmen.
Wenn du diese Wahrheit vertrauend empfangen oder vertrauend erproben willst, wird dir aus der Sonne eine größere Kraft werden als demjenigen, der in ihr lediglich ein Ding der stofflichen Welt, einen Himmelskörper, einen Feuerball erblickt, kurz, du wirst mehr empfangen als der sogenannte „Materialist“.
(Es gibt übrigens sehr praktische Materialisten. Sie gehören einer Kirche an, bekennen Religion, fehlen bei keinem Sonntagsgottesdienst — und glauben doch an nichts als an den Stoff, an die Materie.)
Die Sonne und das Element, das sie zu uns niederströmt, ist nicht allein voll Leben, es ist auch voll geistiger Kraft. Es ist durchgeistete Kraft. Die Sonne ist mehr als nur ein Himmelskörper, ein Planet. Sie ist eine mächtige, bewusste Wesenheit, ein Geist. Wenn wir uns deshalb mit schweigendem Gebete jenem Geiste zuwenden, der unsere Erde durchwärmt und Leben aus ihr ruft, dann empfangen wir aus seiner Kraft. Wir empfangen Geist von seinem Geiste, Sonnengeist.
Hohe Weisheit hat im Altertum, dieses Gesetz erkennend, einen Tag von den sieben der Woche, der Sonne geweiht. An diesem Tage sollte der Mensch durch Geistes-und Körperruhe erhöhte Kraft aus der Sonne empfangen. Daher der Name Sonntag, Sonnentag, Tag der Sonne.
Spuren dieses Gesetzes und Brauches kamen durch die Sonnenanbeter des Ostens bis auf unsere Tage herauf. Man verstehe mich wohl: ich spreche hier weder für den wunderlichen Glauben der Parsen noch für ihre religiösen Übungen. Aber ich sehe in der Sonnenanbetung wie in jeder anderen Anbetung und Verehrung der vielen Bekenntnisse und Glaubensbräuche den goldenen Faden der Wahrheit, der sie alle durchzieht.
Doch die Sonne ist nur eine Quelle der Kraft, aus der wir schöpfen können. Sie ist nur eine Form der Offenbarung der erhabensten Kraft. Aber da sind viele, sehr viele andere Formen und Methoden, um Kraft zu gewinnen. Wir werden sie mit der Entfaltung unserer Geister alle finden. Wir haben Zeit genug: die Ewigkeit liegt vor uns.
Anbetung und Götzendienst sind zwei verschiedene Dinge. Anbetung erhebt, Götzendienst erniedrigt. Anbetung bewundert und verehrt die Schönheit einer Blume, die Gewalt des Ozeans, das Leben und die Kraft der Sonne. Ja, man könnte sagen, wahre Anbetung bestehe aus Bewunderung und Verehrung. Wer in Bewunderung und Verehrung anbetet, betet Gott im Geist und in der Wahrheit an. Ja, wer so anbetet, nimmt etwas von der geistigen Kraft oder Eigenschaft jener körperlichen Offenbarung des Gottesgeistes in sich auf.
In solchem Geiste bete die Sonne an. In solchem Geiste heilige den Tag!
Gib dich dem ruhigen, wärmenden, erfreuenden Niederstrom des Sonnenelementes hin, nicht allein dem Element, das da aus dem strahlenden Himmelskörper niederströmt, sondern zugleich