Es war ein handgeschriebenes Blatt, mit seiner Unterschrift, datiert vom Juli 1987, überschrieben mit dem Wort „Verpflichtungserklärung“.
Den Rest kannte er.
Sie hatten ihn also in der Hand. Mühsam behielt Walter die Kontrolle über seine Bewegungen und seine Worte.
„Ich sehe, Sie haben die Situation erfasst. Also kann ich etwas konkreter werden.“ Bernecker überreichte ihm so unauffällig wie möglich einen Chip, wie er auch für Digitalkameras verwendet wird.
„Auf diesem Datenträger befindet sich ein Dokument. Zum Öffnen benötigen Sie ein Passwort, das Sie von uns unmittelbar vorher bekommen. So erfahren Sie genau, wie Sie vorzugehen haben.“
Wortlos nahm Walter den Chip entgegen. „Vergessen Sie nicht die Unterstützung der Landesregierung bei Ihrer Wahl. Wir bauen auf Sie, setzen Sie einfach Ihre bisherige, sagen wir, Aufgeschlossenheit gegenüber den Wünschen der Politik fort. Das wird an oberer Stelle geschätzt und wird weiterhin nicht zu Ihrem Nachteil sein.“
Dieser Hinweis auf seine bisherigen engen Kontakte zur Landespolitik steigerte Walters Wut, die aber sofort in einem Moor von Hilflosigkeit versank. Walter vermied es, Bernecker beim Abschied die Hand zu geben und erwiderte auch dessen Gruß nicht. Er verstaute die Speicherkarte in einem verschließbaren Fach seiner Brieftasche.
Joachim Walter hatte verstanden. Dann aktivierte er den Mechanismus, den er meist in solchen Situationen in Anspruch nahm. Ein Rädchen darin hatte sich als besonders erfolgreich erwiesen. Sobald Bernecker außer Hörweite war, wählte Joachim die Nummer von Viola Kübeck. Sie betrieb ein Kosmetik- und Massagestudio in seinem Wohnort Karlshagen, und Joachim war ein Kunde der besonderen Art, wie er es für sich selbst immer formulierte. Hoffentlich war sie noch nicht zu ihrer kurzen Urlaubsreise aufgebrochen, die sie ihm angekündigt hatte.
„Schön, deine angenehme Stimme zu hören“, klang es ihm entgegen, als er seine übliche Frage nach einer Spezialbehandlung anbrachte. Denn Walter hatte keine Lust, nach der Veranstaltung noch einmal sein Büro in der Stadt Usedom am anderen Ende der Insel aufzusuchen.
„Für dich doch immer“, hauchte sie jetzt einen Ton weicher, „Gegen 15 Uhr ist okay, ich muss aber … danach … noch mal ins Studio. Du weißt ja, ab morgen bin ich für eine Woche im Urlaub.“
Unverzüglich begab sich Joachim Walter auf den Heimweg, wich geschickt allen Versuchen aus, ihn im Anschluss an diese Veranstaltung in ein Gespräch zu verwickeln. Mit größter Mühe entkam er den Versuchen von ARGUS-TV, ihn zu einem Interview überreden zu wollen.
Die Begegnung mit Erich Bernecker hatte ihn in gehörigem Umfang aus dem Gleichgewicht gebracht. Auf der Rückfahrt im Auto ertappte er sich mehrfach dabei, dass diffuse Gedanken, deren Herkunft er nicht einordnen konnte, ihn an der nötigen Konzentration hinderten. Er fühlte sich in seine Jugend zurückversetzt, als er sich in unangenehmen Situationen immer wünschte, dass diese wie mit einem Federstrich einfach aus seinem Gedächtnis, oder besser noch, aus seinem Leben zu streichen seien.
Fast alle Anrufer des Tages waren besorgt, erkundigten sich nach den Gerüchten zum Deichrückbau. Natürlich stürzten sich die Medien auf ihn. Diesmal stellte er sich den Fragen von ARGUS-TV.
Mühevoll hatte Walter an diesem Tag seine Fassung bewahren können. Die Erregung darüber, auf welche Art er von Bernecker abgekanzelt wurde, war längst nicht abgeklungen. In seinem Inneren stimmte er natürlich mit Reinhard Henkelmann überein. Er würde wohl mit ihm persönlich reden müssen, obwohl das ein gewagter Balancegang wäre.
Einen kleinen Moment lang zog er sogar in Erwägung, es auf einen Machtkampf mit Bernecker und dessen Auftraggebern ankommen zu lassen und sich offen gegen den Deichrückbau auszusprechen.
Schließlich verwarf er diesen Gedanken. Er konnte sich nicht sicher sein, wer genau diese Leute waren und was sie gegen ihn noch alles auffahren würden. Vor allem wenn er an die dunklen Stellen in seiner Vita zurückdachte. Die dunkelsten hatten glücklicherweise bereits einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Gegenwart, wie er selbst einschätzte. Auch wenn die Mauer dorthin auf seiner Rückfahrt scheinbar etwas von ihrer Widerstandskraft eingebüßt hatte.
Die Möblierung des Raums war spärlich: nur zwei Sessel, ein zweisitziges weich gepolstertes Sofa und zwei kleine Tischchen auf Rollen, genau richtig, um darauf Whiskyglas, Obstteller oder ein Buch abzulegen. Die Wände waren mit hellen beigefarbenen Strukturtapeten versehen, deren Relief sich im Schatten der Stehlampe leicht abzeichnete.
In dieser gemütlichen Atmosphäre versuchte Joachim, die Belastungen abzuschütteln, probierte es mit der gewohnten Zeitschriftenlektüre. Aber wie so oft fielen ihm dabei die Augen zu.
Als seine Frau Erika betont laut das Zimmer betrat, schreckte Joachim hoch. Sie war in ein legeres Kostüm aus zwei verschiedenen, zueinander passenden Blautönen gekleidet, wie Joachim nebenbei registrierte. Gewohnheitsmäßig erwartete er in der jetzigen Situation von seiner Frau keine wirkliche Unterstützung.
Das hatte Erika auch gar nicht vor.
„Oh, habe ich dich geweckt?“, fragte sie mit kaum verhohlener Ironie. „Jaja, ältere Herren brauchen ihre Ruhe. Entschuldige bitte, ich vergaß es.“ Joachim lächelte in sich hinein, ehe er erwiderte: „Vor allem, wenn sie mit so vitalen und merklich jüngeren Frauen zusammenleben.“ Erfreut registrierte er seine gewohnte Angriffslust und betrachtete die Kleidung seiner Frau mit gespieltem Interesse.
Erika Walter war gerade zwei Monate jünger als Joachim, etwa einen Kopf kleiner und trotz aller Bemühungen immer noch schwerer. Das Kostüm sollte nach außen hin diese Tatsachen zumindest abschwächen.
Beide hatten sich an die gegenseitigen Nadelstiche gewöhnt, es gehörte mittlerweile zum Ritual ihres Zusammenlebens. Sie wahrten nach außen den Schein der Ironie, meinten es jedoch im Inneren wohl viel ernster, als sie es sich selbst eingestehen wollten.
Erika freute sich auf ihre Rolle als First Lady der Insel. Damit verband sie aber keine erneute innere Annäherung an ihren Ehemann. Im Gegenteil, sie könnte diese Situation ausnutzen, um ihre Freiheiten auszuweiten.
Jovial verabschiedete sie sich: „Bye, großer Chef“, wie sie ihn seit der gewonnenen Wahl nannte, „ich bin dann mal weg, kann spät werden, wie du weißt.“
Joachim gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken, ob sie ihm vielleicht schon früher ihr Ziel für diesen Abend mitgeteilt hatte.
Einmal aufgewacht, legte er die Zeitschrift ganz aus der Hand und schaltete den Fernseher ein. Beim Zappen blieb er zufällig bei ARGUS-TV hängen, denn etwas erregte dort seine Aufmerksamkeit. Das Fernsehbild zeigte verschwommen und undeutlich eine Wasserleiche, die, so der Kommentator, am Peenestrom bei Peenemünde entdeckt worden war. Das Foto war erkennbar nachts aufgenommen worden. Sofort erwachte sein Verantwortungsgefühl als neuer Amtsträger.
Die darauf folgende Einstellung zeigte die Umrisse der weiblichen Leiche etwas genauer, das Gesicht wurde aber bewusst ausgespart. Schemenhaft konnte man in der dunklen Umgebung eine Schulter der Leiche erkennen. Ganz langsam und zunächst weit hinten in seinem Gehirn begann sich bei Joachim eine Annäherung zwischen dem Bild und eigenen Erinnerungen aufzubauen. Plötzlich trafen beide aufeinander, was auf ihn wie ein Stromstoß wirkte.
Seine Gedanken gerieten schlagartig ins Chaos. Obwohl sich alles in seinem Innersten dagegen sträubte, fühlte er sich erneut um zwei Tage zurück versetzt.
Die kurze aber heftige Begegnung mit Viola Kübeck hatte ihm gezeigt, wie viel Vitalität in ihm steckte. Er brauchte eben nur die entsprechende Herausforderung. Dann hatte ihn jedoch der Übermut gepackt. Er hielt sich nicht an die Absprache, äußerste Diskretion zu wahren, fuhr ihr ins Studio hinterher. Dort sah er Licht, ging einfach hinein wie ein Zufallskunde. Er wollte sie überraschen, war selbst noch euphorisiert von ihrer Begegnung.