Der eingangs gestellten Frage „Was geschieht, wenn wir online sind?“ seien drei Fragen beigestellt, die unsere Überlegungen begleiten sollen:
1 Sind wir in der digitalen Welt Subjekte oder Objekte?
2 Sind wir uns unserer Rolle bewusst?
3 Und wenn nicht: Was steht auf dem Spiel?
2. Der Vergleich mit dem Spiegel
Zu Beginn und zum Ende der Betrachtungen wollen wir in den Spiegel blicken, denn Smartphones und Internetanwendungen haben einiges mit Spiegeln gemein. Unter drei Aspekten lassen sich Smartphones und Spiegel vergleichen:
1 Spiegel eröffnen uns ein Stück Wirklichkeit. Ganz gleich, ob im Badezimmer, einer Umkleidekabine oder als Handtaschenaccessoire: Wenn wir in einen Spiegel hineinblicken, nehmen wir viel mehr wahr als nur eine umrahmte Silberschicht hinter Glas. Das, was sie reflektiert, halten wir für die wirkliche Welt.
2 Neben einem Eindruck von der Außenwelt vermittelt ein Spiegel auch ein Bild von uns selbst. Wir gehen davon aus, dass wir so sind, wie wir im Spiegel erscheinen. Er hat somit eine identitätsbildende Funktion. In Anlehnung an Descartes könnte man sagen: Speculo ergo sum.
3 Zudem ist ein Spiegel ein Kontrollinstrument. Er lässt uns Situationen daraufhin überprüfen, ob sie unserem Soll-Bild entsprechen, und ermöglichen manchmal eine Korrektur. Im Badezimmerspiegel überprüfen wir, ob die Frisur noch in Form ist und die Brille gerade sitzt. Ist das nicht der Fall, verrät der Spiegel nach ein paar korrigierenden Handgriffen, ob jetzt alles in Ordnung ist oder weitere Maßnahmen nötig sind. Rück-und Außenspiegel im Auto geben uns die Möglichkeit, ohne Blech-und Personenschäden auszuparken, zu überholen und abzubiegen. Und an unübersichtlichen Einmündungen warnen uns runde Verkehrsspiegel vor anderen Fahrzeugen oder heraustretenden Fußgängern.
In den folgenden Kapiteln wird erläutert werden, inwiefern auch Smartphones, Tablets und Onlinedienste ein Spiegel der Realität sind. Sie sind zugleich Kontrollwerkzeuge, ebenso wie sie Zeugen eines Kontrollverlustes sind. Mit ihnen bilden wir unsere individuelle Identität, ebenso wie wir durch sie Identität erlangen.
Ist es Zufall, dass ein Handspiegel genauso gehalten wird wie ein Smartphone?
1. Kontrolle haben
a) ... über meinen Tag
Evernote, Onenote, Wunderlist, Remember the Milk – Das Angebot an Aufgaben-Apps in den App-Stores ist riesig. Sie helfen uns bei der Organisation unseres dienstlichen oder privaten Alltags. Der Bedarf ist offenkundig da: Die App des kalifornischen Unternehmens Evernote Corporation ist heute allein auf 1,5 Mio. Android-Geräten installiert.3 Apps wie diese dienen als unser persönliches Schwarzes Brett, das wir mit Aufgaben, Notizen und Erinnerungen vollpinnen können. Mag es dort auch noch so chaotisch aussehen: Was wir dort einmal angeheftet haben, kann aus unserem Kopf raus, ohne dass es vom Vergessenwerden bedroht wird. Es belastet uns nicht mehr. Einkaufslisten, die zu erledigenden Arbeiten im Büro oder eine Sammlung von Ideen für das nächste Meeting – Sie liegen auf einem Server, und uns damit nicht mehr im Weg. Die Cloud-Technologie spielt hier ihr ganzes Potential aus. Denn das Abspeichern auf einem Webserver anstatt auf dem einzelnen Gerät ermöglicht einen Zugriff von überall. Viele Aufgaben-Dienste ermöglichen das Bearbeiten der Listen am Dienst-PC über den Browser ebenso wie per App am Smartphone oder Tablet, auf Wunsch sogar parallel. So sind unsere Aufgaben und Ideen jederzeit per Knopfdruck abrufbar. Aufgaben-Apps geben unserem Tag Struktur, so dass wir unser Gehirn nicht mit dieser Struktur belasten müssen. Jedes Häkchen, das wir nach Erledigung unserer Pflicht wonnevoll vor die erfüllte Aufgabe setzen, erfüllt uns mit Zufriedenheit.
Wir haben das Gefühl, unser Leben im Griff zu haben.
b) … über meine Gesundheit
Die digitale Welt macht unsere Gesundheit greifbar. Nach Branchenangaben nutzt jeder dritte Deutsche einen Fitness-Tracker.4 Diese sogenannten Gadgets, also elektronische Armbänder, Smartwatches oder Fitness-Apps, können den Puls messen und aufzeichnen, Schritte zählen und den Schlafrhythmus analysieren. Über Erweiterungen, die ans Smartphone oder Tablet angeschlossen werden, können auch der Blutdruck oder Blutzucker gemessen und protokolliert werden.
Fitness-Tracker verheißen uns Kontrolle über unseren Körper. Wer seine Vitalfunktionen jederzeit ablesen kann und Unregelmäßigkeiten nicht nur fühlt, sondern schwarz auf weiß sieht, hat das Gefühl, seine Gesundheit im Griff zu haben, seinen Körper zu beherrschen. Der sogenannte Quantify Self-Trend, der eine genaue Vermessung des eigenen Körpers verfolgt, bringt das Lebensgefühl der totalen physischen Kontrolle auf den Punkt. Und Fitness-Gadgets dürften da erst der Anfang sein: Der Markt für flexible Sensoren, die in Kleidung eingenäht werden können oder als Pflaster auf der Haut getragen werden können, wird sich Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2022 verdreifachen.5
c) … über mein Haus
Es ist seit Jahren Trendthema auf Computer-ebenso wie auf Einrichtungsmessen: Smart Home oder Intelligentes Wohnen.
Schätzungen zufolge werden in Deutschland im Jahr 2018 2,6 Mrd. Euro mit internettauglichen Haushaltsgeräten umgesetzt werden, in den USA werden es über 18 Mrd. Euro sein.6 Das intelligente Heim beherbergt Kühlschränke, die ihren Inhalt analysieren und beim Online-Lieferdienst automatisch nachbestellen, wenn das Bier zur Neige geht. Die zu Hause autark herumwirbelnden Staubsaugerroboter melden ins Büro, wenn der Auffangbehälter voll ist. Und aus dem Winterdomizil heraus kann der Hausbesitzer seine Heizungsanlage auf die baldige Rückkehr der Urlauber vorbereiten.
Die Kommandozentrale für sein intelligentes Heim hat er mit in die Sonne genommen – sein Smartphone, das über den heimischen Internetrouter auf alle vernetzten Geräte im trauten Heim zugreift.
d) … über meine Kinder
„Hier hast du ein paar Groschen zum Telefonieren, wenn was ist…“ – Wer vor 1990 geboren ist, kennt diesen Satz aus seiner Teeniezeit (auch das ein Ausdruck, den später Geborene wohl nicht mehr kennen). Ausgesprochen haben ihn Eltern, bevor die jugendlichen Sprösslinge nachmittags oder abends das Haus verließen. Das war natürlich ein Ausdruck der elterlichen Fürsorge: Bis in die 1990er Jahre waren Telefonzellen bei aufgeschürften Knien, verpassten Bussen oder Heimweh der einzige Draht nach Hause. Alle anderen Probleme mussten die Heranwachsenden ohne elterliche Hilfe lösen.
Heute sind Telefonzellen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, Groschen gibt es seit der Einführung des Euros ebenfalls nicht mehr, und der Draht nach Hause steckt als Smartphone in der Hosentasche und braucht schon längst keinen Draht mehr.
Das bedeutet, dass Eltern für Kinder heute immer in Rufweite sind, ebenso wie Kinder für Eltern. Das ununterbrochene Erreichbarsein, sei es durch Anrufe oder Textnachrichten, mindert zweifellos die Sorge von Vätern und Müttern um das Wohlergehen ihres Nachwuchses. Anhand des Onlinestatus von Facebook oder des Messengers Whatsapp lässt sich, sofern nicht absichtlich deaktiviert, erkennen, wann die Tochter oder der Sohn zuletzt das Handy in der Hand hatte. So ist der Nachwuchs auch außerhalb der gemeinsamen vier Wände in gewisser Weise unter elterlicher Kontrolle. Den Jugendlichen wiederum gibt die Erreichbarkeit ein Gefühl der Sicherheit, sofern diese nicht durch absichtliches Offlinegehen oder vorübergehend durch Akku-oder Netzprobleme unterbunden wird.
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