Weiter kam er nicht. Aber die Bedienung kam, indigniert angesichts eines in diesen Räumen nie dagewesenen Lach-Schluchz-Anfalls eines augenscheinlich doch seit längerem erwachsenen Mannes. Es schaute jetzt auch die andere Hälfte der Gäste. Die Servicekraft stockte, einem pochierten Eierspeise nicht unähnlich.
Sie sagte nicht mal mehr „Oups!“
Einkauf mit Satteltasche, aber ohne Fahrrad
Unter dem Essig des Frühherbstregens werden alle zu Salat. In der grellbunten Keramikschüssel der Großstadt schwimmen die Leute umher wie aufgeweichte Croutons. Länger haben die Tiere Widerstand geleistet, vor allem die Vögel; ihnen traute man es am ehesten zu, mit dem Wechsel des Aggregatzustandes fertig zu werden, so mutwillig schossen sie immer durch die Luft. Jetzt sitzen sie nur noch da, in merkwürdig großen Abständen zueinander, als fürchteten sie, durch die Berührung fremder Flügel noch mehr Nässe abzukriegen. Am schlimmsten sind die Kastanien dran: Eben noch feierlich erglänzend in ihrem arroganten Möbelhaus-Mahagoni, liegen sie jetzt, von Reifen plattgequetscht, zu Hunderten auf der Fahrbahn: Sinnbilder der Vergänglichkeit irdischer Schönheit, nicht zuletzt auch des Strebens nach Glück.
Würdige schwarze Leder-, eilige spitze Stöckel-, tapsige bunte Gummischuhe zerteilen den Matsch, wie gekocht von unaufhörlich herniederrauschenden Schaumwassern, wohinein sich labberige Blättern, ersoffene Regenwürmer und Zigarettenpackungen mit und ohne Folie mischen. Diese Stadt hat es erwischt. Eine Vorstellung von der Zeit nach dem Regen hat augenblicklich niemand mehr. Sogar die Erinnerungen an den wahrhaftig sehr groß gewesenen Sommer werden schon mürbe und verlaufen hoffnungslos.
Schmitt kauft ein.
Verzeihung: Er kaufte ein. Alles, was im weitesten Sinne mit Schmitt zu tun hat, Verzeihung: hatte, musste unbedingt im Tempus des Präteritums berichtet werden. Besser noch wäre das Plusquamperfekt, die abgeschlossenste Vergangenheitsform, aber da erzählt es sich so holprig. Schmitts Leben war das personifizierte Gewesensein – zumindest seit seiner Pensionierung. Aber auch vorher, Jahrzehnte vorher, hatte sich diese Tendenz bereits angedeutet: Als er sich gegen die Einführung der Lochkarten zur Wehr setzte; als er den ersten Computer heimlich zu nahe an die Zentralheizung heranrückte; als seine Frau starb, Heidelinde, eine ehemalige Mitarbeiterin. So sehr hatte sich Schmitt, Kurt Schmitt, im Gestern und Vorgestern eingerichtet, dass man überrascht sein musste, wenn man heute leibhaftig gegen ihn stieß. Tatsächlich, er war ja noch da! Warum eigentlich? Weil er ausharrte, Tag um Tag, ohne etwas zu finden (wie er selbst gesagt hätte: zu benötigen), was dieser schnöden Gegenwart angehörte.
Der Regen aber lag ihm immer nahe: ein allen gemeinsames Geschick, eine Beeinträchtigung, die jeden betraf, ein von weit oben ergehender Befehl gleichsam, dem ein jedes gehorchen musste. Der Regen ließ die Leute zusammenrücken, auf eben jene Nähe, die Schmitt gerade noch ertrug. Man durfte sich einer sämtliche Weltanschauungen übergreifenden Solidarität sicher sein, wenn man etwa im Aufzug über „das Sauwetter“ herzog, sich darüber ausließ, wie „das Wetter doch immer mehr verrückt“ spiele, ja, über den guten, alten Petrus herzog. Stets senkten und hoben sich die Häupter der Umstehenden, und es gab beifälliges Gemurmel. Schmitt lebte auf, wenn er sich auf diese Weise etwas von jener zustimmenden Aufmerksamkeit verschaffte, die ihm sonst so selten vergönnt war.
Kaum hatte er die Dreißig erreicht gehabt, da hatte er schon als Konservativer, als unverbesserlich rückwärts gewandt, als Verhinderer und Dickschädel gegolten. Das focht ihn nicht an. Falsch: Allen anderen und vor allem sich selbst redete er ein, dass ihn Ignoranz, Widerstand, sogar Zorn und Hass niemals berühren könnten.
„Ein Guter hält´s aus“, pflegte er zu äußern.
Damit meinte er sich.
Und einige wenige, die vor seinem Urteil in der Geschichte bestanden. Alexander der Große vielleicht. Dietrich von Bern, also Theoderich der Große allemal. Und der zweite Friedrich von Preußen, auch so ein „Großer“, ganz gewiss. Bei einem weiteren Feldherrn, der deutlich später kam, wusste man nicht so recht ...
Heidelinde teilte Kurts Kurs: die selektierende, streng urteilende Verfahrensweise – und zwar aus Überzeugung! Nicht er, sie hatte seinerzeit die Initiative ergriffen und den um Jahre Jüngeren an sich gezogen. Ein erlauchtes Vergnügen: Die Schlesinger, eine noch viel jüngere, ja geradezu entsetzlich junge Unter-Unter-Unter-Sekretärin, hatte sich offensichtlich auch etwas ausgerechnet bei dem Herrn Abteilungsleiter.
Ätsch-bätsch!
Kaum war (in der Mittagspause) (ja, in der Mittagspause) die standesamtliche Trauung voll- und die eheliche Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung bezogen, begann Heidelinde das Regiment zu führen. Selbst sterilisiertes Operationsbesteck hätte sie vor Ekel nicht anzufassen vermocht, sondern einer – wie sie das tatsächlich nannte –„Sonderbehandlung“ unterzogen.
War Heidelinde schon korrekt in Angelegenheiten des Büros, so nahm ihre häusliche Reinlichkeitspenetranz rasch etwas Martialisches an. Sie putzte nicht, sie führte Strafexpeditionen durch – gegen keinen Gegner. Denn alle, die hätten weggewischt, -gewedelt, -gekratzt, -geätzt werden können (Staubkörner, Silberfische, Badequallen, Ascheflusen ...), hatten sich schon zu Beginn der zweieinhalb Jahrzehnte währenden Feldzüge in Sicherheit gebracht.
Heidelinde verlangte strengste Tagesstruktur, und sie bekam sie. Ihr Einflussbereich erstreckte sich weit über den eigenen Tod hinaus; noch heute vollzog Schmitt präzise nach dem privaten Dienstplan die Einkäufe wie zu der Zeit, da sie noch mehr oder weniger gemeinsam unterwegs waren – im Übrigen gern per Fahrrad, wiewohl sonst alle Wege mit einem überaus deutschen Auto zurückgelegt wurden. Aber in den Siebzigern hatte die Gesundheitswelle auch das Schmitt´sche Domizil erreicht. Man kaufte Obst. Man schabte Gemüse. Man bewegte sich, vorüber gehend sogar auf Trimm-Dich-Pfaden am Stadtwaldrand. Bei einem Qualitätshändler hatte Heideline zwei Fahrräder einer deutschen Marke und feste, deutsche Ledersatteltaschen erstanden. Da passte alles hinein, hatte hineinzupassen, denn der Qualitätshändler hatte es versprochen.
So kaufte man ein: Kurt blieb bei den Rädern, wiewohl sie abgeschlossen wurden und Heidelinde enterte überfüllte Feinkostläden.
Der Tradition folgend, stand Kurt Schmitt an bestimmten Werktagen heute immer noch vor bestimmten Geschäften (warum hätte er etwas an diesem Ablauf ändern sollen?), die Qualitätsledersatteltaschen überm Arm, obwohl er seit einem Sturz längst kein Fahrrad mehr fuhr ... und wartete. Ja, er wartete, denn das Warten war die dem Menschen gemäße Verhaltensweise. Freilich, es war niemand mehr drin in den Läden, auf den er hätte warten können; gefragt nach seinem sturen, etwas schrulligen Verharren, auf niemanden, aber dennoch zu warten, hätte er geschnarrt:
„Ich kann das nicht leiden, wenn die Geschäfte voll sind. Ich warrrte app, bis sie leer sind.“
Aber es fragte ihn schon lange keiner mehr.
Die Handelsgeschäfte, die er tätigte, waren nahezu allesamt konkludent, sprich: Er musste gar nichts mehr sagen. Heute war ein Dienstag, also gab es Fleischwurst. Die wurde in einem Fleischereifachgeschäft in einer Markthalle in der Innenstadt erworben. Schmitt stellte sich auf und schaute. Die Leute kamen, die Leute gingen. Jetzt war es leer genug. Doch noch ein Kunde. Warten. Noch einer. Warten. Aber jetzt. Wenn ihn die Chefin erblickte, nickte sie verbindlichst und rief irgendwohin:
„Die Fleischwurst für Herrn Schmitt!“
Alsbald packte eine beflissene Verkäuferin exakt 250 g Fleischwurst in eine Folie, die Folie in eine Tüte und reichte dieselbe, mehr oder weniger künstlich lächelnd, dem Wartenden.
„So, das macht dann ...“
Der Preis blieb über Jahre gleich. Bei Veränderungen schaute der Einkäufer missbilligend auf.
„Tja, tut uns leid. Der Strom, die Zulieferer, die ...“
„Ich weiß das,“ knirschte