„Glaub mir Minja, du siehst nicht das, was ich sehe. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich spürte tief in mir, das Unglück sogar auf uns zukommen. Wir hatten riesiges Glück.“
Minja ging zu den vorrätigen Naschsachen, kramte leckere Erdbeerschokolade hervor, nachdem sie in trockenen Sachen gepackt war. Sie brach sich einen dicken Riegel ab, reichte ihn an Mellow weiter, der dankend ablehnte. Ihn gelüstete in diesem schauerlichen Moment nicht nach süßem Naschwerk. Seine heile Welt stürzte in ein bodenloses Chaos. Aurilia blieb verschwunden und kein erleichterndes Lebenszeichen in Aussicht.
„Verdrehte Welt. Die Bewohner des Dorfes verstecken sich in ihren Häusern und die Stadtbürger verhalten sich hitzig. Das ist mehr wie beängstigend.“ stellte Minja fest und schüttelte ihren Kopf.
„Minja, denke und sprich was du willst. Aber ich sage dir, da stimmt was nicht. Die Menschen benehmen sich nicht ohne Grund so seltsam. Es liegt riesengroßer Ärger in der Luft.“
Minja gab keinen Pfifferling auf Mellows Gedankengänge, obwohl es ihr nicht entging, dass eine streitsüchtige Stimmung als unerwünschter Gast in den Häusern Einzug hielt. Nur seine Fantasie war schon immer ausgeprägter, als bei den anderen Kindern. Der Rest war pure Spinnerei, weil die Nerven mit ihm durchgingen. Allein seine sonderbaren Träume zeugten von dem heillosen Durcheinander in seinem Kopf. Minja erwartete insgeheim, dass sobald Aurilia von ihrem Ausflug heimkam, alles wieder gut werden würde. Dann würden sie gemeinsam am Küchentisch sitzen, dem Brutzeln der bratenden Pfanne lauschen und ein neues Abenteuer aushecken.
Natürlich wagten sich beide im Moment nicht mehr vor die Türe und so blieb ihnen nur eines übrig, es war immer noch das Beste sich mit irgendetwas beschäftigen. Hauptsache es lenkte sie von ihrem Streitthema ab. Mellow holte die Zeichnungen für das Teleskop hervor und sie beugten sich gemeinsam über die bisherigen Skizzen. Nach mehreren Tafeln feinster Schokolade und etlichen Stunden an Tüfteleien entschlossen sie sich, sich aufs Ohr zu legen. Zumindest solange bis der Sturm vorbeigezogen war und sie mit BigBig zum Bach gehen konnten. Jeder einzelne von ihnen tat sich mit dem Einschlafen schwer, da ihnen die Gedanken durch die Köpfe jagten, aber die Müdigkeit siegte.
„Hallo, Mellow. Ich habe schon sehnsüchtig auf dich gewartet.“
Marianas Stimme zu hören war eine Wohltat. Wenn er sich am goldenen See befand, schien ihm diese Wirklichkeit viel realer als die Welt, in der er sich gerade schlafen gelegt hatte. Mellow erhob sich blinzelnd vom goldenen Boden.
„Hallo Mariana. Ich bin durcheinander und ich vermisse meine Großmutter. Was ist nur passiert?“
Mariana stellte sich vor ihm, spendete ein wenig Schatten, das gab ihm die Möglichkeit seine Augenlider zu entspannen. Auch dieses Mal stand sie ohne ihr Federkleid da. Ihr Lächeln strahlte pure Freude aus. Mellow fühlte sich auf unerklärliche Weise unendlich stark mit ihr verbunden. Ganz so, als ob sie beide aus derselben Familie entstammten.
„Was mit Aurilia geschehen ist, kann ich dir nicht sagen. Aber wie ich schon sagte, es gibt jemanden, der darüber Bescheid wissen könnte.“
„Dann fragen wir den Jemanden. Ich wünsche mir Antworten.“
Mariana lächelte verlegen.
„Nein, Mellow so einfach ist es leider nicht. Die Umstände sind überaus gefährlich. Ich kann dir nur verraten, dass du in einem uralten Mysterium verwickelt bist. Aurilia kennt das Geheimnis. Hat sie dir nichts darüber berichtet?“
Mellow reckte seine Faust nach oben.
„Nein, hat sie nicht und mir ist es völlig gleich in was ich verwickelt bin. Ich will meine Großmutter Auri bei mir haben. Und ich bin bereit, alles dafür zu tun.“
„Mellow, es ist wichtig für uns, dass dein Handeln durch Taten und nicht durch Worte geführt wird. Für dich und für mich und für all die anderen.“
„All die anderen?“, fragte Mellow erstaunt nach.
„Ich erahne deine Gedanken. Ein tiefes Geheimnis streift dich gerade mit seinen kristallenen Flügeln.“
Sie forderte ihn auf, sich auf seinen Hosenboden zu setzen und hinzuhören.
„Mellow, eine Schockwelle durchrast gerade das Universum. Es ist etwas passiert, was nicht passieren dürfte. Wir alle befinden uns in Gefahr. Das Höllenfeuer bricht über uns herein und der einzige, der das verhindern kann, bist du. Laizif jagt dich bereits. Er ist erbarmungslos und darf dich nicht erwischen, denn er wird dich, ohne mit der Wimper zu zucken, zerstören. Deswegen muss Aurilia gefunden werden, denn nur sie alleine kann dich vor ihm behüten.“
Mariana erwartete eine Reaktion, die aber ausblieb.
„Wenn wir dich verlieren, verlieren wir deine heilige Gabe.“
Mellow bemühte sich, seine Augen zu öffnen.
„Ich verstehe das alles nicht. Ich will doch nur meine Großmutter zurück. Sonst gar nichts.“
„Mellow, das kann ich verstehen, aber vertraue mir. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass du die Fähigkeit besitzt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Du nutzt deinen inneren Blick. Das ist eine wertvolle Fähigkeit auf dem Weg deiner Suche. Nutze die Möglichkeiten, die es dir bietet. Nur so kannst du Aurilia helfen. Mellow nutze dein inneres Auge!“
Noch bevor Mellow etwas erwidern konnte, wurde er im geheimen Unterschlupf Wolke 7 wach. BigBig zupfte energisch am silbernen Haar und es blieb ihm keine andere Wahl, als aufzustehen.
„Ja, ja! Ich weiß, du hast Hunger.“
Mit einem sanften Rütteln weckte er Minja, die sich schwertat aufzustehen. Er wollte ihr unbedingt von seinem neuen Traum berichten. Minja war neugierig genug, sich die spannende Geschichte anzuhören, auch wenn sie ihn danach abermals für einen armen Spinner abtat. Mellow entsicherte das Schloss und lugte raus. Der Sturm war mittlerweile verzogen und sie begaben sich gefahrlos vor die Türe. Er atmete tief durch, blickte sich um und betrachtete neben dem Eingang die schwarzen großen Einschlaglöcher, die die Blitze hinterlassen hatten.
„Los komm schon! Beeile dich, Mellow. BigBig hat bestimmt tierischen Hunger.“
Unruhig flog der Eisvogel auf und ab, drängte seine Freunde, dass sie eine flotte Sohle vorlegen sollten. Der rauschende Bachlauf war vom vielen Regenwasser angeschwollen. BigBig jagte erfolgreich, schlug sich den gefiederten Bauch mit leckerem Futter zu. Es dauerte eine Weile bis er satt war. Auf dem Rückweg beschloss Mellow zuhause zu übernachten.
„Minja bleibst du heute Nacht bei mir? Ich habe das Gefühl, dass Großmutter auftauchen wird.“
Er brauchte sie nur einmal zu bitten, Minja war eine treue Seele. Auch wenn die Zeiten gerade schwierig waren. Zuhause suchte Mellow und Minja, wie jeden Tag, die Räume ab, aber Großmutter Auri blieb verschwunden. Mellow richtete üppige Käsebrote und gelbe Limonade in großen Gläsern her und sie verspeisten ihr Abendmahl vor dem Fernseher, guckten dabei gespannt eine neue Folge ihrer Lieblingssendung. Es war ja niemand da, der sie deswegen rügte. „Poch, poch, poch.“ Plötzlich pochte es stürmisch an der Türe. Mellow blieb vor Aufregung fast das Herz stehen. Blitzschnell warf er seinen Teller weg und sprang mit einem sportlichen Satz über die Rückenlehne des Sofas.
„Großmutter, Großmutter. Endlich.“, schrie er vor Erleichterung durch das gesamte Haus.
Minja blickte ihm verständnislos nach. Sie hatte kein Klopfen wahrgenommen. Sie biss genüsslich in ihr belegtes Brot, den halben Blick weiterhin auf dem flimmernden Bildschirm und die andere Hälfte auf die Türe gerichtet. Mellow riss mit einem Schwung die Türe auf und ihn überfiel vor Entsetzen die lähmende Starre. Unbändige Hitze drang ins Haus, die Welt vor der Türe