Nicht sehr weit, und sie waren am Drostenhof. Annette konnte nun mit Bestimmtheit sagen, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie suchten nach erklärenden Tafeln und fanden dann auch eine. Von Schlaun! Ich hatte recht!, sagte Inga befriedigt, die die Leidenschaft ihres Vaters für Architektur übernommen hatte. Der Vater allerdings war der Architektur wahrscheinlich mehr aus Anhänglichkeit an seinen zehn Jahre älteren im Krieg gefallenen Bruder zugetan. Der Bruder hatte dem Kleinen erklärt, und der Kleine hatte es als Gunst und Liebesbeweis genommen. Ingas Vater war so einer, sehr treu, sehr anhänglich. Der Drostenhof ein Barockbau, gemäßigt in der Ausführung mit einem großen Innenhof. Eine Mauer grenzte ihn von der Gasse ab. Auf der Gasse ein Café. Sie wählten sich Plätze an der Mauer. Sie hatten die stechende Sonne in ihrem Rücken, sahen auf das die Gasse auf und ab flanierende Volk. Ein Eiskaffee, sagte Inga zur Bedienung.
Ein Eiskaffee, sage Annette nach einigem Zögern, hätte lieber ein Eis gegessen.
Inga knickte den Halm an vorgesehener Stelle, schlürfte ein wenig vom Kaffee. Übrigens, Wolle und ich haben uns getrennt, sagte sie übergangslos.
Jetzt also doch!, dachte Annette. Sie hatten nie über Ingas Ehe gesprochen. Durch deren Vater wusste sie von Problemen. Wenn wir nach Hause kommen, wird Wolle nicht da sein, fiel ihr als nächstes ein. Sie war noch nie mit Inga allein gewesen. Annette erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam. Sie musste die Nachricht erst verarbeiten. Auch war es Inga wohl lieber, wenn sie sich nicht äußerte. Annette berichtete davon, dass sich die Beziehung zu einer Freundin gehalten habe, obwohl die der Arbeit wegen nach Westdeutschland gezogen sei. Darüber bin ich so froh, sagte sie. Es braucht Jahre, ehe ich zu einer Frau Zutrauen fasse.
Ich kann gerade mit Frauen!, sagte Inga. Ich habe eher Schwierigkeiten mit Männern. Warum kannst du mit Frauen nicht.
Annette sprach von ihrer Mutter, der Schwester von Ingas Vater und bald davon, wie sie im Vorschulalter in ein Kinderheim gegeben worden sei, das von einer gemeinsamen Tante geführt worden war.
Komisch. Wir haben uns bei Tante Ines zu den Ferien immer sehr wohl gefühlt!, sagte Inga mit ihrer hellen, festlichen Stimme, in der ein klein wenig Schwäbisch mitklang.
Ja, zu den Ferien! Aber ich war eineinhalb Jahre dort. Und nie bekam ich Besuch wie die anderen Kinder. Annette erinnerte an die vier Wochen, die sie zu Tante Ines Entlastung zu Ingas Familie geschickt worden war. Wir sind zusammen in den Kindergarten gegangen, sagte sie. Wir mussten mittags die Köpfe auf die Schulbänke legen und so tun als ob wir schlafen. Eine Tante ging mit einer Rute herum.
Das weiß ich nicht mehr, sagte Inga. Sie hatten sich alle Geschichten schon erzählt. Aber manches hatte die Cousine vergessen, und wenn nicht, hörte sie die offenbar trotzdem gern.
Und bei dir zu Hause gab es Limonade. Deine Großeltern, Onkel Rudi, deine Mutter arbeiteten auf dem Feld. Wenn man trinken wollte, gab es Limonade.
Ach ja. Inga lächelte. Die Limonade! Wenn wir später zu Besuch bei Oma Nägele waren, hat immer ein Kasten Limonade für uns Kinder dagestanden. Wir tranken sie so gern.
Ich hab Limonade nicht gemocht, dachte Annette. Dass wir Kinder keine Rolle spielten, sah ich daran, dass jeder aß, wann er wollte, und man Limonade aus dem Kasten trank. Selbst wenn zwei dasselbe erleben, erleben sie es anders.
Inga hatte den Platz im Schatten der Mauer gut gewählt. Die Luft war feucht und inzwischen sehr warm, in der Sonne sicher kaum noch erträglich. Die Menschen nutzten den ersten Sommertag seit langem und den freien Sonnabendvormittag, indem sie sich heftig durch die Stadt und diese Gasse mit ihren Lädchen und Cafés bewegten.
Annette nahm den Gesprächsfaden wieder auf, berichtete davon, wie die Mutter nichts mehr habe mit ihr anfangen können, als sie ihre Tochter endlich zurück in den Osten geholt hatte, damit sie dort zur Schule ginge. Die Mutter hatte davon gesprochen, wie sie ein ganz anderes, fremdes Kind vorgefunden habe. Gewachsen war Annette natürlich, sei der Mutter aber leicht verwahrlost vorgekommen. Geschwäbelt habe sie, und selbstverständlich konnte von den tadellosen Tischmanieren nicht mehr die Rede sein, die sie vorher gehabt hätte. Es hat sich dann auch keine Beziehung mehr aufgebaut, sagte Annette. Es waren ja jüngere Kinder da, um die sie sich ihrer Meinung nach mehr kümmern musste. Und sie hat mir mit allen Mitteln einen gewissen Eigensinn austreiben wollen, der ihr weder verständlich noch wünschenswert erschien. Meine Eltern hatten ja die Vorstellung, ein Kind müsse aufs Wort gehorchen.
Das kam von Omi, sagte Inga. Mein Vater erzählt fürchterliche Dinge über ihre Konsequenz. Als Gymnasiast habe er zum Beispiel wegen einer Kleinigkeit einen ganzen Sommer Badeverbot bekommen.
Bis dahin hab ich meine Mutter angebetet. Aber als sie nur noch an mir auszusetzen hatte, ich ständig verfügungsbereit sein musste, änderte sich das. Ich hatte wahrhaftig genügend Pflichten, aber nie gab es für sie ein Genug. Ich bekam Angst vor ihr, ihren Launen. Nie wusste man, wie sie gerade aufgelegt war. Ich brauche Berechenbarkeit. Männer sind berechenbar. In der Regel. Annette war an dem Punkt angelangt, auf den sie hinaus gewollt hatte.
Natürlich war sie mit den vielen Kindern überfordert, versuchte sie zu entschuldigen. Aber sie hat sie ja gewollt. Nicht mein Vater. Sie! Allerdings kann ich mir eine Kindheit ohne meine Geschwister nicht vorstellen. Ich lebte gern in einer großen Familie und sehne mich im Grunde noch heute danach.
Deine Mutter! Inga schüttelte den Kopf. Sie musste immer geschont werden. Als sie Omi vierzehn Tage pflegen sollte, hat sie es glatt abgelehnt, sie fühle sich dazu nicht imstande. Aber warum bist du zu Tante Ines gekommen?
Annette erklärte, dass sich der Vater in einer Ausbildung befunden hätte. Die Mutter hatte arbeiten gehen müssen. Omi hatte für uns drei Mädchen zu sorgen, sagte sie. Omi und meine Mutter sollten entlastet werden. Die Idee stammte übrigens von deinem Vater. Der hat allerdings nur an einen kurzen Aufenthalt bei Tante Ines gedacht und sich gewundert, wie viel Monate daraus wurden. Aber wer dem Teufel den kleinen Finger gibt, dem nimmt er die ganze Hand. Sie lachte. So war meine Mutter. Ich habe auch immer gedacht, meine Mutter würde mich gleich wieder abholen. Schließlich fing das mit meinen Bauschmerzen an. Die ganze Kindheit über hatte ich Bauchschmerzen.
Es war wohl in unserer Familie üblich, dass man Kinder weggab, sagte Inga nachdenklich, erzählte von ihrem Vater, der sich gerade in letzter Zeit wieder beklagte, dass seine Mutter - Annettes und Ingas Großmutter - ihn lange Zeit bei ihrer Schwägerin untergebracht hätte, wo er zwischen Cousinen - eine davon Tante Ines - aufwuchs in dem Haus, in dem nachher Annette mit fünf, sechs Jahren gelebt hatte. Er kann es Omi nicht verzeihen, sagte Inga. Er ist über siebzig und kann es ihr nicht verzeihen. Das ist schon komisch, oder vielmehr albern. Aber irgendwie auch bemerkenswert, findest du nicht?
Annette nickte.
Übrigens sind deine Mutter und mein Vater sich nicht nur äußerlich ähnlich. Sie sind beide Egozentriker. Aber weißt du, was mich bei meinem Vater in den letzten Jahren am meisten aufregt? Er hat immer recht. Selbst bei Dingen, wovon ich wirklich mehr verstehe.
Annette war Ingas Klage bekannt. Sie dagegen belustigten eher die kleinen Streitereien zwischen ihren Eltern, die daher kamen, dass ihre Mutter darauf beharrte, recht zu haben.
Doch jetzt hat sich unsere Beziehung sehr zum Positiven verändert, sagte Inga. Als sie hörten, dass ich mich von Wolle trenne, haben sich meine Mutter, aber auch mein Vater sehr gut verhalten. Letztens habe ich meinem Vater übrigens mit einer Bemerkung eine große Freude gemacht. Ich hab gesagt: Ihr führt ein offenes Haus. Es war immer meines Vaters Wunsch gewesen, ein offenes Haus zu führen. Er hat selbst gar nicht so wahrgenommen, dass es ihm auch gelungen ist.
Ich habe heute auch ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, sagte Annette. Besonders zu meiner Mutter. Ich denke, man muss die Menschen nehmen, wie sie sind.
Wenn du alles tolerierst, nimmst du sie nicht mehr ernst, widersprach Inga.
Warum streiten, wenn du siehst, du kannst nichts mehr ändern?
Genau