Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Lohg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722935
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      "Warum rauchst du nicht?", sollte sie ihn bald fragen. Er könnte doch in den Garten gehen, sich eine Pfeife stopfen und unverrückbar auf der Bank sitzen. Er erzählte ihr stattdessen eine Geschichte von ungerauchten Rationen an Zigaretten mit denen er sich im Krieg Brot gekauft hätte, auch mal gegen ein Stück Seife getauscht habe, um es mit der Feldpost ihrer Mutter zu schicken. Von diesem spannenden Krieg sollte ihr Vater noch viele weitere erstaunliche Geschichten erzählen, da kamen Wassermelonen drin vor, fremde Länder, fremde Sprachen, große Autos, das blaue Meer, unglaublich, dachte Sophie, so ein Krieg, so ungeheuer weit weg. Diese Märchenstunden machten ihm unverkennbar Spaß und Sophie hörte stets gespannt zu. Ihre Mutter konnte davon nichts erzählen, sie war da ja gar nicht gewesen, doch auch sonst erzählte niemand etwas darüber, schien einzig ihr Vater in diesem phantastischem Krieg gewesen zu sein.

      Nach dem Garten und dem Haus sollte Sophie allmählich das Dorf als Spielplatz entdecken. Auf der Straße schloss sie sich schnell einer kleinen Rotte frei herum laufender Kinder an, vorneweg ihr Vetter Theobald, einer der Söhne vom Klempner. Gemeinsam gingen sie auf Erkundung, sie sollten sogar eine Burg finden, wenigstens ein kleines Mäuerchen aus lose gestapelten Steinen, in deren Nähe eine Kapelle stand. Hier verbrachten sie lange Stunden, ahmten voller Hingabe Burgfräulein und Ritter nach, waren Kunigunde und Kuno zu einem Kinderspiel geworden. Auf dem Hügel gegenüber lag noch eine Burg verstreut, aber dort spielten andere Kinder, so malten sie sich manchmal einen Krieg aus, wie ein großes Abenteuer, bei dem sie diese anderen Kinder auf der Burg gegenüber bezwingen würden, mit langen Ästen und Steinen, die Schwerter und Kanonenkugeln waren, nehmen Erwachsene diese Kinderspiele meist fürchterlich ernst. Diesen Hügel, ihre Burg verließen sie nur ungern, wenn es langsam dunkel wurde. Bis auf manchmal, wenn mitten am helllichten Tage unvermittelt die Glocke der Kapelle läutete, dann liefen sie eiligst den Hügel hinunter, querfeldein, ab durch den dichten Wald. Es war sonst niemand da, der hätte am Seil der Glocke ziehen können.

      Sophies Ausschnitt war schon bald richtig groß geworden, in ihre Welt passte neben die Burg beizeiten sogar die alles beherrschende Kathedrale rein. Das wuchtige Gemäuer war ihr der verwunschenste Ort, in den der Blitz stets als erstes einschlug, wenn es donnerte und zwischen Hügeln gewittert es oft gewaltig. Es war der Mittelpunkt vermutlich des Weltenalls, denn da drin wohnte der liebe Gott, obschon der nie zu Hause war. Dennoch wurden herrlich unergründliche Geschichten darum herum gemacht, von denen sie längst nicht alle verstand oder irgendeinen größeren Zusammenhang erfasste, aber das war vorerst unerheblich, konnte sie sich das Verständnis für später aufheben. Doch gerade weil so vieles unbegreiflich blieb, erscheinen diese Geschichten glaubwürdig, nicht so wie bei Hänsel und Gretel, deren Knusperhäuschen sie trotz ausgiebiger Suche noch nicht gefunden hatte. Die Kathedrale aber gab es wirklich und sogar echte Hexerei, wenn Wasser in Wein verwandelt wurde und Brot in Hostien, so ähnlich hatte sie es gehört, aber nie gesehen, steckt der Zauber aber immer im Unsichtbaren.

      Mit der imposanten Kathedrale direkt vor der Haustür musste Sophie nachgerade unumgänglich über den Katholizismus stolpern und ganz feste an all die Geschichten glauben. In ihrer Welt gab es neben Burgfräuleins und Rittern, über jeden Zweifel erhaben nun auch Engel, den heiligen Geist, die Auferstehung, einen Eier legenden Hasen, das Christkind und sein Papa, der liebe Gott und die Hölle irgendwo da unten, keinesfalls hier oben. Das musste alles durch und durch wahr sein, denn niemand würde so viel Aufwand betreiben, wenn das alles Märchen wären, sonst könnten doch alle auch an den Froschkönig glauben. Nein, irgendeine Ungereimtheit konnte Sophie nicht erkennen, eben weil niemand ein so riesiges Haus baut, wenn kein Gott darin wohnen würde. Kein Mann zöge ein langes, besticktes Kleid an, würde von der Kanzel aus vom Erzengel berichten, vor Todsünden warnen, unheimlich gut riechenden Weihrauch schleudern, die Beichte abnehmen und Rosenkränze verordnen, wenn all das nicht wahr wäre, dachte Sophie folgerichtig über alle Ungereimtheiten hinweg. In der Kathedrale hauste also das ganz große Mysterium und jenes ging sie oft suchen.

      Wenn sie nicht mit Theobald und einer handvoll Gleichgroße in der kalt feuchten Stätte mal wieder Verstecken mit dem Pfarrer spielte, der davon nie etwas bemerkte, ging Sophie alleine zu diesem düsteren Ort. Beherzt suchte sie Gott zwischen den langen Holzbänken, hinter dem Altar sollte sie ihn auch nicht finden, nicht auf der Empore, nicht hinter der Orgel. Nirgendwo ein Gott zu sehen. Mit leichtem Schauder ging sie nach und nach an jede einzelne auffindbare Tür, die sie stets langsam öffnete und vorsichtig hinein luckte. Hinter den Türen verborgen fand sie spärlich eingerichtete Räume, als würden sie das Nichts beherbergen, zumindest aber die Belanglosigkeit. Jedesmal war es eine Enttäuschung, die sie dennoch beruhigte, da sie letztlich nicht genau wusste, was zu tun wäre, wenn sie dem allmächtigen Wesen endlich gegenüber stand. Auf die Knie fallen? Doch auf der linken Seite, dort wo immer die Frauen saßen, da gab es eine Tür die unverschämt verschlossen blieb. Als sie längst jeden Winkel der Kathedrale kannte, zog es sie immer wieder genau da hin, hin zu dieser einen Tür. Irgendwer schien ihre Ausdauer zu belohnen, an dem Tag, an dem die sonst so beharrlich verschlossene Tür sperrangelweit offen stand.

      Diese Tür war tatsächlich anders als die anderen, denn dahinter verbarg sich kein Raum, sondern eine Treppe. Eine schmale steinerne Treppe nach unten, mitten hinab in das Dunkel. Mit stockendem Atem, rasendem Herzschlag schlich Sophie die Treppe hinunter, stieg hinab in einen Gang. Eine Hand an dem feuchten Gemäuer tastete sie sich vor, noch tiefer hinein in das Dunkel, immer weiter hinein in dieses Verlies merkte sie nicht, wie das Licht sich bedenklich verdünnte. Plötzlich schlug eine Tür. Die Tür. Jetzt erst war sie klar und deutlich zu sehen, die Finsternis, Sophie schaute ihr gradewegs ins Antlitz. Augenblicklich fing sie an zu schreien, lauter als sie konnte.

      "Was zum Teufel?", schrie der Pfarrer, der die Tür sofort wieder öffnen sollte. Immer noch schreiend rannte Sophie die Treppe nach oben, schreiend aus der Kahtedrale. Gott hatte sie an diesem Tag nicht gefunden, aber immerhin die Pforte zur Hölle. Die Hölle war also wirklich wahrhaftig dort unten. Genauso wahrhaftig wie dieser schmale, dunkle Gang der zu jenem Bunker führte, in dem sich einst ihre Mutter geängstigt hatte, wegen einer ganz anderen Hölle dort oben.

      Besonders die unheimlichen Orte üben eine unwiderstehliche Anziehung aus, aber um diese Tür sollte Sophie vorerst einen Bogen machen. Stattdessen schlich sie auf ihrer andauernden Suche nun um die Kathedrale, außen herum, dort gab es auf einer Seite auch einen Gang, nicht ganz so feucht, schmal und dunkel. Am Ende des Ganges, in einem Spalt in der Mauer, waren Stufen eingelassen, wieder eine Treppe, diesmal nach oben. Hinauf zum Friedhof. Irgendwie unheimlich lag dort ihr Opa unter einem Stück Erde in der ein schmächtiges Holzkreuz steckte, ein paar wenige waren unter schweren Steinen begraben. Hier sollte sie öfter auf einer Bank sitzen, von der aus sie fast alles überblicken konnte, wie damals als er noch lebte, schaute sie aufmerksam einem geschäftigen Treiben zu. Zwischen den Gräbern huschten entrückte Gestalten umher, die mal hier stehen blieben, mal dort, manche knieten, gruben dabei ihre Hände tief in den Boden, um das Grünzeug zu richten, vielleicht aber um ihren Lieben näher zu sein. Und sie tuschelten unentwegt miteinander oder mit den Toten. Bisweilen saß Sophie dort wartend, vielleicht würde ja irgendjemand seiner Grube entsteigen, um in der Kathedrale durch die Pforte zu gehen oder schnurstracks gen Himmel zu fahren.

      "Vor denen da unten, brauchst du keine Angst zu haben." Der Rat kam ungefragt. "Es sind die Lebendigen, vor denen du dich fürchten musst." Diese entrückte Gesalt war unvermittelt neben ihr aufgetaucht. Sophie sagte nichts, sie blieb einfach still sitzen. Die Gestalt strich ihr über den Kopf, nahm ihr behutsam die pompöse Schleife aus dem Haar, betrachtete diese sorgfältig und gab sie sodann zurück. "Das musst du nicht auf dem Kopf tragen."

      Ohne ein weiteres Wort verschwand die alte Frau, die nicht wie die anderen eine Schürze trug, sondern umhüllt war, von einem langen schwarzen Kleid, vom hoch zugeknöpften Kragen bis auf den Boden. Einzig eine silberne Brosche, wie eine offene Blüte, durchbrach das tiefe Schwarz. Es war Sophies Großmutter, die unweit der Kathedrale in einem Knusperhäuschen wohnte. Eine seltsam anmutende Gestalt, die sie eines Tages schwarze Witwe nennen sollte.

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