Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Lohg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722935
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      Und so wurde nun auch hier im Dorf, versteckt hinter Hügeln, eifrig ein neues Reich errichtet, welches für restlos alle gelten sollte, denn die eine einzig wahre Ordnung bleibt mit allem anderen unvereinbar. Edmund, der sorglose Briefträger, aber meinte, ihn würde es nicht betreffen, fiel ihm bloß auf, dass er in seiner Uniform längst nicht mehr alleine im Dorf war. Etliche andere hatten sich nun befedert, wenn auch nicht mit gefälligem Blau und silbernen Köpfen, erinnerten diese neuen Uniformen vielmehr an die Jauchegrube. Mit strammen Schritten marschierten die jetzt durch das Dorf, als wollten die in ihrer jauchigen Verkleidung irgendwem Angst einjagen. Edmund hätte nicht einmal in seiner weit schickeren Uniform so stelzen können, obendrein wäre er sich dabei ungeheuer albern vorgekommen. Anderswie wollte er auch niemanden verängstigen, er brachte viel lieber eine Freude ins Haus, wenigstens in den Briefkasten, das machte ihn glücklich, vielleicht ein bißchen stolz, dagegen waren diese jauchig uniformierten Prahlhanse ziemlich bedauernswerte Geschöpfe.

      Es waren Verwandte von ihm, alte Schulkameraden, vertraute Nachbarn die jetzt selbstherrlich in Uniform herum stolzierten, meinten die wohl, sie könnten damit irgendwen täuschen. Edmund kannte sie doch noch alle in zerschlissener Klamotte, kam es ihm wie eine Maskerade vor. Da hatte sich der Gottfried kostümiert, passte die Uniform immerhin zu seiner Leidenschaft, wehrlosen Tieren die Knochen zu brechen. Und der Friedrich schien endlich eine passende Ausstattung für seine Eitelkeit gefunden zu haben, passte das Kostüm ebenso hervorragend zu Johanns Beflissenheit, während der verklemmte Wilhelm dahinter vorteilhaft seine Unsicherheit verbergen konnte. Dennoch machten diese alten Bekannten in ihrer Kostümierung allseits großen Eindruck, gehörten sie doch schon bald zur Elite im Dorf, wenn sie Respekt erwarteten, ohne ihn zu vergeben. Diese Figuren brachten eben genau die Eigenschaften mit, die vom herrschenden Milieu begünstigt wurden, die Umstände waren wie geschaffen, sie mussten nur die Gelegenheit ergreifen, das Milieu zu ihren Gunsten zu wenden.

      Und so marschierten diese Angeber ungestört durch das Dorf, unmissverständlich an ihrem Habitus zu erkennen, waren sie jetzt die feinen Herren, eben die bessere Gesellschaft. Aber der sture Edmund ließ sich davon nicht beeindrucken, die würden ihm nichts anhaben, schließlich waren sie vom gleichen Stamm, gehörten dem gleichen Hügelvolk an, war dies doch eine Zugehörigkeit, die sie ähnlich sein ließ, die sie förmlich zu Gleichen machte. Bei diesem festen Vertrauen sollte er bleiben, selbst als sein Freund Jakob vorsichtshalber das Dorf verließ, wollte der sich wohl nicht auf seine Abstammung verlassen. Der Jakob war sein bester Freund, einer von der Sorte, die als solche sofort erkannt werden, gleich am ersten Schultag. Vorher hatten sie sich noch nie gesehen, denn Jakob wohnte außerhalb des Dorfes. An jenem ersten Tag hatten sie zwischen Tafel und Schulbank einander augenblicklich als beste Freunde erkannt, vermutlich weil sie beide stöpselig waren, genügen in dem Alter oft Kleinigkeiten, um eine unbedingte Freundschaft zu begründen. Vor allem wegen Jakob war Edmund Forstarbeiter geworden und als er den Wald verließ, wollte er Jakob mitnehmen, ihm eine Stelle bei der Post verschaffen. Doch Jakob wollte lieber Rabbi werden, wie sein Vater, den viele Rabbi nannten, nur weil er gegen eine kleine Spende jedes gewünschte Gebet erledigte.

      Den Rabbi allerdings sollten Gottfried, Friedrich, Johann, Wilhelm und die anderen Jungs in Uniform aufschrecken, zwar machten die Rüpel dem alten Mann keine Angst, aber seinem Sohn könnten sie vielleicht erheblichen Ärger bereiten.

      "Mir tun die nix.", sagte der alte Mann, der in der aufgetakelten Bande noch die kleinen Hosenscheißer sah, die sie einst gewesen waren. "Mich kennt hier jeder.", darauf vertraute er. "Unsere Familie lebt hier seit Jahrhunderten.", wähnte er sich zugehörig. "Aber für dich könnte es ein wenig unbehaglich werden.", sagte der Rabbi seinem Sohn und schickte ihn fort. Er verbrauchte all sein gespartes Geld und mehr für eine Überfahrt nach Amerika, dort sollte Jakob solange wie nötig bei einem Vetter wohnen und möglichst die geheiligten Schriften studieren. "Mein Junge, sobald sich alles beruhigt hat, kommst du wieder. Rabbiner werden wir hier dann sicher dringend brauchen."

      Auch Edmund dachte, er würde Jakob schon bald wiedersehen. Das dachte er noch, als andere Eltern ihre Kinder fort schickten. Die vom Metzger gingen kurz nach Jakob weg, bald folgten dem Bäcker seine Kinder, von dem einen Bauern, schienen nach und nach viele fort geschickt zu werden, von ihren beunruhigten Eltern. Aber Edmund wollte deren Bedenken nicht teilen. So wie viele, die blieben. Sie würden bleiben, wie die Generationen davor, den Laden weiter betreiben, das Gewerbe, den Hof, an Ort und Stelle einfach schwere Zeiten überstehen. Sie fühlten sich tief verwurzelt, mit dem Land ihrer Vorfahren, hier gehörten sie hin, das war ihr zu Hause. Sie würden ihre Heimat nicht aufgeben, für ihr Vaterland würden sie sogar in den Krieg ziehen, ihr Leben aufgeben. Doch das Vaterland hatte sich inzwischen neu ausstaffiert und damit die alte Heimat vertrieben, die auch Edmund nicht verlassen wollte.

      Vermeintlich unmöglich war der Wahnsinn Realität geworden, die umso mächtiger wird, je mehr daran glauben. Beherrscht von einer gewaltigen Idee war diese sogar in jedem Winkel des Dorfes sichtbar, als Hackenkreuze nunmehr das gesamte Bild bestimmten, bald auch übergroß auf Schaufenster geschmiert. Die Buchstaben daneben schienen regelrecht zu kreischen: Kauft nicht beim Juden! Edmund aber kaufte, weil das hatte er doch immer so gemacht, hielt er schlicht an seiner Wirklichkeit fest. Und auch andere kauften, weil der Bäcker doch das beste Brot hätte, der Metzger das frischeste Fleisch, der Bauer die größten Eier, manche kauften aus Trotz. Da standen sie dann vereinzelt in den Läden, starrten durchaus beklommen auf das schwarze Kreuz und die blutroten Buchstaben am Fenster, schüttelten verstohlen den Kopf, sprachen kaum ein Wort und wenn dann nur flüsternd: "Das geht bald vorbei." Wie Sterbende, die sich an das Leben klammern, blind vor dem Unvermeidlichen konnten sie nicht einmal Linderung finden, weil sie so leise sprachen.

      Was dann geschah, war reichlich offensichtlich, wollte hinterher allerdings niemand davon gewusst haben, dass nach und nach immer mehr Zweiburger scheinbar spurlos verschwanden. Eines Tages war der Bäcker mit seiner Familie weg, kurze Zeit später der Metzger und seine Angehörigen, auch der eine Bauer samt seiner weitläufigen Verwandschaft, sogar der Rabbi, sie alle waren eines Tages einfach weg, alle, ohne Abschied. Nach und nach wurden Nachbarn, Freunde abgeführt, selbst wer wegschaute, konnte es nicht übersehen. "Die werden in ein Arbeitslager gebracht.", hieß es im Dorf, als sei das völlig gerechtfertigt. Da war doch nun wirklich nichts dabei, irgendwen in ein Arbeitslager zu verbringen, das machte man jetzt eben so, ein ganz normaler Abtransport, das hatten die bestimmt verdient, die waren gewiss selber daran schuld. Und Edmund suchte bei dem Gedanken an ein Arbeitslager Trost, damit redete er sich Hoffnung ein, denn das, was ihm hie und da zu Ohren gekommen war, daran konnte er gar nicht glauben wollen.

      Das Hackenkreuz war längst kein Erkennungszeichen mehr für wahnhaft verkündete Gewissheiten, sondern stand nun endgültig für Recht und Ordnung. Und Endmund sah sich umgeben von einer Wahrheit, die ihm eine Lüge bedeutete, doch davor verschloß er die Augen. Er verblieb in der Welt, die es gut mit ihm meinte, als der unabkömmliche Briefträger, während um ihn herum jubelnd längst der totale Krieg ausgerufen worden war. Frohgemut ging es auf in die nächste Schlacht, marsch, marsch, weil die Herrenrasse mehr Raum brauche, ist der Krieg die Fortsetzung des ganz normalen Wahnsinns mit anderen Mitteln.

      Und also verließen wieder reichlich viele Männer völlig trunken das Dorf, um wieder völlig besoffen irgendwen, der ihnen nichts getan hatte, abzuschlachten, war ihnen das wohl ein ungemein ausgefeilter Plan. Dabei lächelte die Fratze des letzten Krieges sie noch unverblümt an, jene entstellte Gestalten, heimgekehrt von der letzten großen Schlacht, denen im besten Fall der Splitter einer Granate schmerzhaft durch den verstümmelten Körper marschierte, dagegen erschienen selbst die Toten wenigstens in der Erinnerung lebendig. Aber egal, das jetzt hier war ein ganz anderer Kampf: die Alten hatten ihren Krieg gehabt, die Jungen würden den ihren viel, viel besser machen, als könne jede Generation sogar den Tod noch steigern. So hatte offenbar nur Edmund seinen gestolperten Vater nicht vergessen, seine im Großen Krieg gefallenen Brüder und Onkels, scheinbar litt nur er noch an den Alpträumen seiner Kindheit, in denen, wie aus dem dunklen Nichts, ein blutrotes Trümmerfeld aus Knochen auftauchte. Edmund wollte in keinen Krieg taumeln, in kein Gefecht ziehen, fühlte er sich obendrein weder als Herrenmensch, noch vermeinte er, dafür mehr Platz zu brauchen. Er klammerte sich an seine blaue Uniform mit silbernen Knöpfen dran und behauptete, wenn nötig eindringlich, die