Da Houke ihr die Antwort schuldig blieb, stieß sie ihn an und wollte zum Anleger schwimmen, doch Houke fasste nach ihrem Arm und drehte sie zu sich um. „Und wenn sie doch noch lebt“, fragte er leise, obwohl er in der Hinsicht so wenig Hoffnung hegte wie sie.
Später, als der Tag zur Neige ging, hielt er wieder Wache vor Hasdrubal’s Kammer, und die Gelegenheit war vorüber. Semiris, die gleich matt in den Korbsessel sank, atmete bald gleichmäßig wie ein Säugling in der Wiege. Die letzte Nacht unter offenem Himmel war sie über ein kurzes Einnicken nicht hinausgekommen. Jetzt schlief sie endlich.
Houke betrachtete ihr friedliches Gesicht mit der neckischen Spitznase. Je länger er sie um sich hatte, desto mehr fühlte er für sie. Zu wissen: sie würde die Flucht auch mit Kirsa versuchen, zehrte an seiner Eitelkeit. An Mut hätte es ihm nicht gemangelt, aber das Dasein unter dem Stern der Besitzlosen hatte ihn geformt und in einen Mann mit Prinzipien verwandelt.
Der Atlanter nahm es leicht, als er erfuhr, sie hätten nun auch Ombos hinter sich gelassen.
„Ombos?“, wiederholte er fragend. „Da liegt doch irgendwo die Kurkur-Oase. Mein Freund, wärst du dort geflohen, hättest du den Steinbauch vor dir gehabt – eine Wüste, die keiner lebend durchquert, der nicht dort geboren ist. Du musst Geduld haben. Auf seine Rache sollte man sich freuen, dann kommt auch der Tag dafür.“
Houke dachte sich seinen Teil und gab nicht auf, erzählte ihm, warum sie Kirsa seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekamen. „Der Assyrer hat sie vor allen Leuten mit Gewalt genommen, und ich bin machtlos gewesen. Wie soll ich ihr jemals wieder in die Augen schauen?“
Er räusperte sich, weil seine Stimme so heiser klang. „Meiner armen Semiris steht dasselbe bevor“, beteuerte er. „Sanherib und der Sarde sind die Besten im Wurf nach dem Strich. Keiner von beiden lässt sich noch einmal vertrösten, das ist gewiss. Die Mannschaft hat die Schacherei mitbekommen und wird nicht zulassen, dass ich noch einen Aufschub heraushole. Dann geht es Semiris schlecht. Nehmen die sie mir weg, kann ich ihr so wenig helfen wie Kirsa.“
Er holte tief Luft, ehe er hinzufügte, „und du sagst, du bist mein Freund. Du könntest es verhindern! Was ist denn daran falsch, wenn du diesem Mörderpack etwas vorspielst? Das ist doch lediglich eine Sache des Ehrgefühls. Andere Menschen verschwenden keine Gedanken an so etwas. Eine Frau, der man Gewalt antut, leidet ganz anders, und Semiris sagt, sie möchte lieber sterben, wenn es sich wirklich nicht abwenden lässt.“
All das sprudelte aus ihm heraus, und es wurde still hinter der Tür. Dann sagte Decgalor: „Ruf mir euren Anführer und melde ihm, ich will mit ihm reden.“
Houke begab sich mit Semiris an Deck und übermittelte die Neuigkeit, dann stellten sie sich zu Archaz, der mit verschränkten Armen unter der Heckflosse stand. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ließ sie der Freund aus früheren Tagen allein. Doch Houke hatte nichts anderes erwartet. Die Abendsonne glich heute einem Feuerball und war dabei, hinter den indigoblauen Konturen des Gebirges zu versinken. Sie tauchte die Dünenketten der davor liegenden Wüste in ein unheimliches Rotlicht, bei dem Abergläubige eine Nacht der Dämonen witterten und mancher nahendes Unheil ahnte.
7. Kapitel
Ihm war zuwider, was ihn erwartete, doch Decgalor sagte sich, der Zweck heiligt die Mittel. Sich zu verstellen war eben eine List, und wer die gerechte Sache vertritt, wird von der Nachwelt selten für schlecht befunden. Es gab auch Menschen, die pflegten so etwas Diplomatie zu nennen.
Ein kurzes Klopfen an der Tür ließ ihn augenblicklich hochfahren.
„Du willst mit mir reden?“, fragte eine kalte Stimme, und Decgalor wusste, wen es zu ihm trieb. Vermutlich kam Hiram nicht allein.
„Ich habe Hunger“, bemerkte Decgalor.
„Du bekommst sauber geschmorte Tauben in Nuss-Tunke, die keiner besser zubereitet als unser Kaleb“, gab ihm Hiram hocherfreut zu verstehen, hustete trocken und legte ihm nahe: „Brauchst bloß bei den Göttern von Babylon und Egypten zu schwören, du willst ab heute einer von uns sein.“
Der kluge Atlanter zählte für sich bis fünf, um nicht zu sehr bereit zu wirken und dadurch Misstrauen zu wecken. „So könnte es sein“, sagte er endlich, „doch habe ich noch eine Bedingung.“
„Nein!“ rief hinter der Tür Hiram. „Du bist unser Gefangener. Du stellst mir keine Forderungen.“
Das kathegorische Nein ermahnte den Atlanter, seine Vorbehalte hintenan zu stellen und sie auf den verlangten Schwur nicht länger warten zu lassen. „Ich habe Hunger“, sagte er anschließend, als sei alles geklärt.
Energisch bremste ihn Hiram. „Seit wir dich hier ohne Futter halten, habe ich mir den Kopf zerbrochen, ob es klüger wäre, sich neuen Jagdgründen zuzuwenden. Sag, kennst du dich aus in den Gewässern hinter dem Sperrturm?“
„Das will ich meinen.“
„Dann ist es gut.“
Also hoben sie ohne Hast den Riegel und ließen den Gefangenen, der ab jetzt kein Gefangener mehr war, heraus. Kaum erschienen sie gemeinschaftlich an Deck, erwies sich sein Einlenken als segensreich, denn am Vorsteven rang Semiris unter dem hämischen Beifall der Mannschaft mit drei rauschaligen Seeleuten. Wie ein Knäuel umdrängten sie die Arme, und sie wand sich unter der zudringlichen Hand des Assyrers. Sanherib fasste sie grob von hinten um und drückte ihr alle Luft aus dem Bauch, und ihre um Hilfe flehenden Augen duldeten keinen Aufschub mehr. Flink wie ein Beutelschneider rupfte Decgalor dem Assyrer das Kurzschwert aus dem Gürtel und drückte ihm dessen Spitze an die bebende Gurgel. „Nimm die Finger von ihr“, fauchte ihn der Atlanter an. „Bei uns achten wir Frauen und schreiten ein, wird ein Mann ausfallend in der Wahl seiner Mittel. Wollt ihr mich zum Bruder, dann führt euch nicht in meinem Dabeisein auf wie eine Horde geiler Paviane.“
Er schleuderte den Assyrer von sich, worauf der mit dem Genick hart gegen den Balken der Rahe stieß und sich verdattert über den Hinterkopf fuhr.
„Soll ich dir zeigen, wer hier bestimmt?“, knurrte Hiram zornig, aber ihre Bruderschaft hatte vor Tagen durch ihn fünf seiner besten Leute verloren und keiner verspürte Lust, sich an dem Atrlanter zu messen.
„Das ist lächerlich“, empörte sich Hasdrubal.
Decgalor strafte ihn mit einem verächtlichen Lächeln. „Denkt nicht, ihr könnt mich noch einmal mittels Netz überwältigen, wer die Waffe zieht, büßt dafür mit seinem Leben.“
Das genügte wahrhaftig, sich durchzusetzen. Hiram lag einfach zu viel daran, diesen Mann im Gefolge zu haben, und mit versteinerter Miene tat er ihm den Gefallen. „Da hast du uns aber einen untergejubelt“, schnaubte Hasdrubal ärgerlich. Und er rechtfertigte sich mürrisch. „Ich halte mich an das, was Suteman angeordnet hat. Keiner rührt die Kleine an.“
Die Frage, ob er sich westlich des Sperrturmes auskannte, hatte den Atlanter hellhörig gemacht. Sicher, seit Menschengedenken patrouillierten zwei Dutzend Schiffe zwischen der Nordspitze Libyens und der Küste Siziliens. Jeden Handelsfahrer, der nicht aus freien Stücken den Turm anlief, verwies man auf die Zollstation. Bei wiederholtem Auffallen drohte eine Beschlagnahme des Schiffs. Das östliche Mittelmeer war somit perfekt von der Westsee abgeteilt. Viel Zeit rieselte durch die Sanduhr der Ewigkeit, seit man zuletzt einen nicht legitimen Besucher der Westsee aufgabelte, und die Menschheit fing an, den Nimbus zu akzeptieren, von der Höhe des Sperrturmes würde jeder Passant gesichtet werden. Vielleicht wäre denkbar, dass ein Schlupfloch blieb; sein Oheim Dëialis, der Herr aller Flotten, zog einmal die Möglichkeit in Betracht. Zweifellos mieden die Schwertfischer die offizielle Passage am Zollturm, doch gab es Berichte, nach denen populäre Seeräuberbanden, die im östlichen Mittelmeerraum und im Nebelmeer ihrem