Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die schwarze Flüssigkeit setzte Jan seinen dampfenden Kaffeebecher ab und schlurfte zur Tür. Auf seiner Fußmatte stand ein etwas untersetzter Mann im schwarzen Anzug, mit einer altertümlich wirkenden Chauffeurmütze auf dem Kopf. „Dr. Jan Seibling?“, fragte er ernst. Scheinbar die Standardfrage an diesem viel zu frühen Morgen. Jan verfluchte innerlich das unscheinbare „Willkommen“ auf dem Fußabtreter. Nichts war ihm in diesem Moment unwillkommener als dieser ungebetene Gast.
Der mutmaßliche Chauffeur musterte ihn kritisch, als würde er, trotz des Namensschildes über der Klingel, auf dem in deutlichen Großbuchstaben der Name SEIBLING eingraviert war, jemand anderes in der Wohnung vermuten. Jan zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu, um sie jederzeit wieder zuschlagen zu können, sollte ihm nicht gefallen, was der Unbekannte von sich gab, oder sich die kuriose Situation in eine bedrohliche verwandeln.
„Ich wurde geschickt, um Sie abzuholen. Wir sollten uns beeilen; wir werden bereits erwartet.“ Ein eindringlicher Blick begleitete diese Worte.
Jan schüttelte energisch den Kopf. „Sie glauben doch nicht, dass ich zu einer mir völlig fremden Personen ins Auto steige!? Wer sind Sie überhaupt? Und wer schickt Sie?“, konterte Jan aus der relativen Sicherheit seiner halb geöffneten Tür heraus.
Mit ernstem Blick vollführte der Fremde eine kurze Verbeugung. „Sie können mich Max nennen. Ich bin leider nicht autorisiert, Sie bereits jetzt über mehr als das Ziel unserer Reise in Kenntnis zu setzen. Alles, was ich Ihnen geben kann, ist dieser Brief.“ Mit diesen Worten zog er einen geschlossenen Umschlag aus der Innentasche seines Anzugs und überreichte ihn mit geradezu feierlicher Miene, als würde er Jan den großen Preis der Samstagabend-Lotterie überreichen.
Jan stutzte kurz, nahm den Brief aber an sich. Sah offiziell aus. Auf der rechten oberen Seite prangte statt einer Briefmarke der Deutsche Bundesadler, ebenso wie auf dem roten Siegel, das den Umschlag verschloss. Ein Siegel! Jan hatte noch nie irgendein Schriftstück in den Händen gehalten, das mit einem Siegel verschlossen worden war.
Inzwischen neugierig geworden, öffnete Jan das Schreiben mit einem misstrauischen Blick auf Max und überflog die wenigen Zeilen, die der Anrede folgten.
Wir bitten um Ihre Expertise und Mitarbeit in einer dringenden internationalen Angelegenheit. Wir möchten uns für die Art der Kontaktaufnahme entschuldigen, aber wir wurden sehr kurzfristig vom amerikanischen Außenministerium gebeten, an Sie heranzutreten. Die Situation ist sehr brisant und wir möchten Sie dazu anhalten, Stillschweigen über diesen Brief zu bewahren, sollten Sie sich gegen eine Zusammenarbeit entscheiden. Aus diesem Grund sind wir leider auch gezwungen, Ihnen nur die nötigsten Informationen zukommen zu lassen, solange wir uns Ihrer Mitarbeit nicht versichern können. Falls Sie sich jedoch dazu entschließen, sich unser Angebot anzuhören, wird der Überbringer dieser Nachricht Sie in die Außenstelle der amerikanischen Botschaft in München bringen. Dort werden Sie weitere Informationen erhalten.
Unterschrieben war die Nachricht vom deutschen Außenminister persönlich. Verunsichert blickte Jan auf und stellte überrascht fest, dass Max lächelte: „Ich hoffe, Sie haben bereits gepackt?“
3) Portugal, Terras do Sado, 03. Juli 2007
Susanna tupfte sich mit einem erschöpften Seufzen den Schweiß von der Stirn. An diesem Tag setzte ihr die Hitze besonders zu, obwohl sie seit dem ersten Spatenstich auf dieser Ausgrabungsstelle ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, sich an den glühenden Sand zu gewöhnen, der die gesamte Ebene wie eine alles erstickende Bettdecke überzog. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch früh, gerade erst neun Uhr. Trotzdem herrschte bereits eine Temperatur vor, die das heimatliche England selbst in seinen heißesten Sommern bisher nicht erreicht hatte. Der Staub brannte in ihren Augen, die ohnehin mit dem grellen Licht der heißen Sonne zu kämpfen hatten. Sie ließ für einen Moment die Schaufel ruhen, um einen Blick über die Ausgrabungsstätte zu werfen und um einen dringend benötigten Schluck Wasser zu trinken. Das Wasser war warm wie alles andere auch, aber in ihrer ausgedörrten Kehle fühlte es sich wie der Himmel auf Erden an.
Die ganze Ebene war von einem emsigen Treiben erfüllt. Bis zum Mittag beabsichtigten sie, einen großen Teil des Tagespensums geschafft zu haben. Am Anfang hatten sie noch versucht, auch über Mittag weiterzuarbeiten, aber die Hitze wurde schnell unerträglich, sobald die Sonne ihren Höchststand am Himmel überschritten hatte. Inzwischen hatten sie sich dem Lebensrhythmus der einheimischen Bevölkerung in dem kleinen Örtchen hinter der nächsten Hügelkette angepasst. Der heiße Nachmittag blieb der Siesta vorbehalten, und erst abends konnten sie ihre Arbeit wieder aufnehmen, sobald die Kühle der Nacht sich mit stetiger Brise angekündigte.
Die verlorenen Nachmittagsstunden waren wahrscheinlich auch ein Grund, warum ihre Suche an diesem Ausgrabungsort noch keine nennenswerten Erfolge hervorgebracht hatte. Bis auf ein paar zerbrochene Vasen und die kümmerlichen Überreste einiger Mauern konnten sie auf ihrer Habenseite keine interessanten Funde verbuchen. Susanna fragte sich bereits, ob sich die ganze Mühe überhaupt lohnen würde. Vermutlich jagten sie einem Gespenst hinterher, einer fixen Idee, die eher von Wunschglauben als von wissenschaftlichen Fakten getrieben wurde. Es grenzte beinahe an Wahnsinn, hier tatsächlich noch irgendwelche spektakulären Entdeckungen zu erwarten. Dafür war viel zu viel Zeit vergangen, eine halbe Ewigkeit, zumindest nach den Maßstäben der vergleichsweise kurzen Zeitperiode, seitdem der erste Mensch am Horizont der Geschichte aufgetaucht war. Auch wenn sie mit ihren eigenen Augen die Bilder gesehen hatte, konnte sie immer noch nicht glauben, was ein solcher Fund letztendlich für die Geschichtsschreibung bedeuten würde, nein, sie wagte es vielmehr nicht, sich die Konsequenzen dieser Entdeckung auszumalen. Stand es ihnen tatsächlich zu, all jene Glaubensgrundsätze über den Haufen zu werfen, die seit Jahrhunderten die Eckpfeiler des menschlichen Selbstverständnisses darstellten?
Bislang drohte allerdings keine Gefahr, sämtliche Geschichtsbücher neu drucken zu müssen. Innerhalb der letzten drei Monate hatte sie hier vor Ort noch keine Beweise gesehen, die ihre Theorie untermauern und die Bilder bestätigen würden. Mit jedem Tag, der in unabänderlicher Gleichförmigkeit verstrich, wuchsen ihre Zweifel an der ganzen Geschichte. Zwei, vielleicht drei Tage noch, dann würde sie die Ausgrabung abbrechen, bevor die Kosten sämtliche auf Vernunft basierten Grenzen sprengten.
Unbewusst wischte sie sich ihre Hand an ihrer kurzen Khakihose ab. Wie sehr sehnte sie sich nach einer Dusche! Doch auch wenn ihr dieser Luxus zurzeit verwehrt blieb, wäre es ihr niemals im Traum eingefallen, sich deswegen zu beschweren. Susanna liebte ihren Job; gegen keine Dusche der Welt würde sie ihre Arbeit eintauschen wollen. Wenn ihr Blick auf die entfernten Berge fiel und über den leicht flimmernden Sand schweifte, dann erfüllte sie eine innere Zufriedenheit, die wahrscheinlich nur wenigen Menschen in ihren Berufen zuteilwurde. Es war dieses unbeschreibliche Gefühl, Spatenstich für Spatenstich der Erde neue Fundstücke abzuringen, das dieses karge Leben lebenswert machte. Inzwischen war sie es gewohnt, außerhalb jeglicher Zivilisation nur mit dem Nötigsten auszukommen. Der Verzicht war ein Teil ihres Jobs, auf den sie sich einzustellen bereit war.
Susanna widmete sich wieder dem Loch vor sich, das sie mit der Schaufel ausgehoben hatte. Sie folgte mit ihrer Grabung dem Verlauf einer Mauer, auf die sie vor knapp einer Woche gestoßen waren. Mit einem Finger strich sie die Mauer entlang; die leicht raue Oberfläche kitzelte unter ihrer Fingerkuppe. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas war an der Mauer ungewöhnlich. Sie war alt, vermutlich sogar sehr alt, aber dafür erstaunlich gut erhalten. Sie zeigte beinahe keine Spuren von Verwitterung, wie sie es erwartet hätte. Es wirkte, als hätten Jahrtausende von Sandstürmen und Regengüssen der Mauer nichts anhaben können. So eine Bauwerkskunst hatte sie in einer Gesteinsschicht dieses Alters bisher noch nicht gesehen. Genau genommen konnte sie sich noch nicht einmal daran erinnern, überhaupt jemals etwas Vergleichbares entdeckt zu haben. Sie runzelte ihre Stirn, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Vielleicht sollte sie die Flinte doch noch nicht ins Korn werfen. Diese Mauer wirkte vielversprechend und konnte, archäologisch betrachtet, ein erster Schritt auf dem langen Weg zu einer atemberaubenden Entdeckung sein.
Sie richtete sich auf, als sie jemanden ihren Namen rufen