Für ihn würde der Aufstieg kein Problem darstellen. Er legte seine Schutzkleidung, die nur hinderlich gewesen wäre, ab, warf sich die Rolle mit dem gut 30 Meter langen Seil über die Schulter und begann den Aufstieg, den ihm die fest an dem Felsen anliegende Buche leichtmachte. Seine gebogenen Beine erinnerten an Steigeisen, wie sie Arbeiter der Post beim Besteigen von Telefonmasten verwendeten.
Innerhalb kurzer Zeit kam der Mann auf dem Plateau an. Doch er machte keine Anstalten, mit seiner Arbeit dort oben zu beginnen. Er stand wie angewurzelt und Keller hatte schon Bedenken, dass der Mann nicht schwindelfrei sei.
„Das hätte man ihn doch zumindest fragen können“, dachte Keller und sah Reinig, der, den Helm in der linken sich mit der freien Hand durch das schüttere Haar fuhr, von der Seite her vorwurfsvoll an.
Doch plötzlich kam Bewegung in den Mann auf dem Felsen. In Windeseile band er das Seil um den abgebrochenen Kronenstumpf, zurrte kurz an dem Seil und ließ sich, mit den Füßen am Felsen abstoßend, an dem Seil nach unten gleiten, die ihm ins Gesicht schlagenden Astenden ignorierend.
Dann stand er schwer atmend vor Keller und Reinig und in seinen Augen war etwas, was die beiden erschrecken ließ.
„Was ist los?“ Keller sah den Mann verständnislos an. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“
Der Mann, dem tatsächlich alles Blut aus dem Gesicht gewichen war, versuchte seine Atmung in den Griff zu bekommen und zeigte mit seinem rechten Arm nach oben, den Blick nicht von Keller wendend.
„Da oben…!“
„Was ist da oben?“
„Da liegt einer!“
„Wo?“
„Na da oben…da oben liegt einer!“
„Wie, da oben liegt einer?“
„Da…da liegt einer. Ich glaube…der ist tot.“
„Was reden Sie da? Ein Toter? Wie soll ein Toter da oben hinkommen?“
Dann dachte er an die zahlreichen Wanderer, die diesen Felsen an vielen Tagen des Sommers bestiegen. Vielleicht war einer alleine dort hinaufgestiegen und einem Herzinfarkt oder sonst etwas erlegen.
Er wandte sich an Reinig. „Sieh bitte nach da oben, Klaus! Nein, besser, du bleibst hier unten, wegen der Spuren. Ich verständige Polizei und Notarzt. Vielleicht lebt er ja noch.“
„Er lebt nicht mehr“, meldete sich der Arbeiter, der sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete, obwohl er genau wissen musste, dass dies im Wald ausdrücklich verboten war. Keller, der so etwas unter normalen Umständen mit aller Strenge geahndet hätte, ließ es geschehen.
„Wieso sind Sie sich da so sicher? Sie haben sich doch kaum dort oben aufgehalten.“
Der Mann blickte nach oben zur Felsspitze. „Es hat gereicht, um das festzustellen“, sagte er und sog gierig an seiner Zigarette. „Wenn man kein Herz mehr im Leib hat, dann muss man tot sein.“
1. Kapitel
„Terry, lass das, ich bin heute nicht in der Verfassung, mit dir Gassi zu gehen! Lisa, kannst du das nicht übernehmen? Bitte! Ich bin irgendwie geschafft heute?“
Ich versuchte, eine bemitleidenswerte Miene aufzusetzen, ließ mich auf den mir am nächsten stehenden Stuhl in der Küche fallen und betrachtete Terry, der sich sofort vor mich setzte und mich mit seinen treuen Augen ansah.
„Überarbeitet ist der Herr Hauptkommissar?“ Lisa Bauer schaute von der Seite zu mir herüber und ich glaubte einen Anflug von Ironie in ihrer Mimik zu erkennen.
„Nein, nicht überarbeitet.“ Es klang trotzig und so fühlte ich mich auch. „Du weißt genau, dass es in der letzten Woche keinen Grund dazu gab. Es darf mir doch wirklich auch einmal vergönnt sein, eine ermittlungsruhige Phase zu erwischen.“
„Und wo ist jetzt das Problem? Warum gehst du dann nicht mit Terry Gassi?“
„Weil ich…weil ich…ich glaube, ich bin krank.“
„Krank?“ Lisa zog den Ausdruck dieser Feststellung auf eine Art und Weise in die Länge, die alle Glaubhaftigkeit ad absurdum führte.
„Zumindest fühle ich mich nicht gesund. Vielleicht ist eine Grippe im Anzug.“
„Ach ja, die Frühlingsgrippe. Fieber?“
„Wie, Fieber?“
„Ich meine…hast du Fieber? Wenn man die Grippe hat, bekommt man Fieber. So ist das zumindest bei mir, wenn ich krank werde.“ Lisa, die ihr brünettes Haar in den vergangenen Monaten auf Schulterlänge hatte wachsen lassen und es heute in Form eines Knotens trug, der das schöne Gesicht mit den grünen Augen, den vollen roten Lippen und den markanten Wangenknochen so richtig zum Ausdruck brachte, stülpte einen Deckel über den größten der drei Kochtöpfe, in denen das Abendessen vor sich hin garte und wischte sich die Hände in einem Abtrockentuch ab.
„Fieber ...? weiß nicht.“ Ich legte eine Hand auf meine Stirn. Sie war kalt. „Vielleicht…ja… ich glaube schon.“
„Lass mich mal!“
Lisa legte ihre rechte Hand auf meine Stirn und sah mir in die Augen.
„Hohes Fieber, Heiner. Ich vermute, so um die 36 Grad. Da sollten wir besser Doktor Grothe anrufen. Du kannst dich schon mal ins Bett legen, ich werde das für dich erledigen.“
„Ist ja schon gut!“ Ich schlug ergeben die Augen gen Himmel, um sie dann mit kapitulierender Miene auf Terry ruhen zu lassen. Terry, das Findelkind. Terry war uns zugelaufen und der ehemalige Eigentümer hatte sich gegen die Zahlung eines Geldbetrages dazu überreden lassen, nicht auf seinem Eigentumsrecht zu bestehen.
So wechselte der Hund, den sein ehemaliger Besitzer seltsamerweise Benno getauft hatte, die Familie, und Lisa nannte ihn schlicht und einfach in Terry um, denn wie sie im Internet erfahren hatte, entstammte unser neues Familienmitglied der Rasse des „Schwarzen Terriers“.
Als ich schließlich mit Terry vor der Haustür stand und die frische Abendluft des schon fast sommerlich wirkenden Maimonats schnupperte, erschien es mir doch einigermaßen angenehmer, als in der Stube zu hocken und auf das Servieren des Abendessens zu warten.
„In einer Stunde ist das Essen fertig“, hörte ich die Stimme Lisas hinter mir. Ich hob den Arm zum Zeichen der Verständigung, ohne mich umzudrehen und ging hinter Terry her, der es keine Sekunde versäumte, die Leine straff zu halten und mir zu zeigen, wo es lang ging.
„Da kommt ja unsere Spürnase! Wohin möchte der Hund Sie denn gerne ausführen?“
Die Stimme gehörte Schaeflein, dem Pastor der Gemeinde Forstenau, der aus einer Nebengasse mit gemächlichen Schritten auf mich zukam und seinen breitkrempigen Hut kurz lüftete.
„Sie sehen ja selbst, Herr Pfarrer. Die Wildheit des Tieres siegt über die Kraft des Menschen. Übrigens, ich habe Sie beim letzten Stammtisch vermisst. Hat Ihr Chef Ihnen Überstunden verordnet?“
„Spürmann, immer für einen Scherz zu haben.“ Schaeflein lachte, wobei sein runder Bauch zu wippen begann. Der Pfarrer war von der Statur her nicht der größte und so drängte sich die Vorwölbung seines mittleren Körperteils bei der kleinsten Bewegung in den Vordergrund.
„Aber im Ernst, ich hatte tatsächlich keine Zeit. War ein paar Tage verreist, dienstlich, auch wenn das offensichtlich hier kaum jemand mitbekommen hat. Na ja, sehr vermisst haben mich meine Schäflein wahrlich nicht. An der Beteiligung der Messe am vergangenen Sonntag war die Freude über meine Rückkehr kaum zu ermessen.“
„Ja die Moral schwindet immer mehr. Während das Haus mit Ihren Schäfchen immer leerer wird, füllen sich unsere Zwangsquartiere umso mehr. Man könnte meinen,