Nun ja, vielleicht Gregor - nein, mit absoluter Gewissheit Gregor, denn er wusste eigentlich alles, was in den Köpfen seiner Mitarbeiter vorging, dachte sie bei sich. Sie stellte sich vor, dass ihm bewusst war, wie einsam sie war. Gut, sie stürzte sich in die Arbeit, kannte keinen Feierabend oder den Anspruch auf freie Wochenenden. Immer wenn ein Freiwilliger für Sonderschichten oder arbeitsintensive Arbeiten gesucht wurden, war sie ›erste Frau an Bord‹.
Aber irgendwann war sie dann eben doch wieder zu Hause, und dann sprang sie sie an, wie ein ausgehungerter Panter - die Einsamkeit. Jutta, die langsam anfing, den Spitznamen Mutti nicht mehr zu mögen, hatte im letzten Jahr miterlebt, wie Sonja und Gregor zusammengefunden hatten. Ein halbes Jahr später hatten Jenny und Irina ihre Beziehung begonnen und sie schienen bisher recht glücklich zu sein. Sie gönnte beiden Paaren ihr Glück und war nicht neidisch im negativen Sinne. Beneiden war etwas anderes und das tat sie auf jeden Fall. Das gleiche Glück hätte sie sich gerne auch für sich selbst gewünscht.
Mit einundvierzig Jahren hatte sie den Gedanken an Kinder eh schon zu den Akten gelegt, wobei ihr ja auch schon die Voraussetzung eines Partners fehlte. Gut, dachte sie zum wiederholten Mal, man kann auch ohne festen Partner ein Kind bekommen, aber will ich das? In den Zeiten der Einsamkeit stellte sie sich manchmal vor, dass ein Kind die Erfüllung wäre und das Alleinsein erträglicher gestalten könnte. Dann aber setzte sich ihr Realitätssinn durch, und ihr wurde klar, dass ein Kind keinen Partner ersetzen konnte oder sollte.
Aber wie komme ich an einen Partner? Bin ich nicht schon zu lange allein und auf mich selbst gestellt, als dass ich mich noch den Herausforderungen und Problemen einer Partnerschaft stellen könnte? Habe ich überhaupt Zeit für eine Beziehung?
All diese Fragen wälzte sie endlos in ihren Gedanken hin und her. Manchmal verneinte sie jede der beiden Fragen kategorisch, ein anderes Mal dachte sie über Strategien nach. Einmal hatte sie einem wohlmeinenden Rat folgend eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio begonnen, um dort jemanden kennenzulernen, der nichts mit ihrem Beruf zu tun hatte. Leider hatte sie sehr schnell feststellen müssen, dass dort vier Kategorien von Männern vertreten waren: Erstens, die Männer, die äußerlich überhaupt nicht ihren Vorstellungen entsprachen und nur dorthin kamen, um abzunehmen oder nicht vorhandene Muskeln aufzubauen. Zweitens, diejenigen, die ihr zwar gefielen, aber leider eben schon vergeben waren. Drittens, die Männer, die zwar vergeben waren, aber trotzdem auf einen One-Night-Stand aus waren. Viertens, die nicht unerhebliche Anzahl der selbstverliebten Schönlinge, die nur vor dem Spiegel posierten und mit Sicherheit nichts anderes wollten, als bewundert zu werden.
Das Fitnessstudio hatte sich als vorteilhaft für ihre Figur erwiesen, insofern bereute sie es nicht, sich angemeldet zu haben. Was das Kennenlernen eines netten Mannes anging, hatte es sich aber als absoluter Flop dargestellt. Sie war auch nicht der Typ, der alleine in ein Lokal oder ein Bar ging, zumal sie bezweifelte, dass sie dort die richtige Sorte Mann kennenlernen konnte. Es mangelte ihr auch an Freundinnen, mit denen sie zusammen etwas hätte unternehmen können.
Alles in allem eine ziemlich verfahrene Situation, aus der sie keinen wirklichen Ausweg sah.
Sie schenkte sich ihr allabendliches Glas Rotwein ein, das sie als Schlummertrunk zu sich nahm und dabei stets darauf bedacht war, es auf keinen Fall zu einem zweiten Glas kommen zu lassen. Es wäre die Realisierung ihres größten Albtraums gewesen, als einsame Alkoholikerin zu enden, die ihren Kummer jeden Abend ersäufte. Nachdem sie zu Bett gegangen war, versuchte sie, ihre Gedanken auf ein anderes Thema zu bringen - auf die Arbeit und den bevorstehenden Tag.
Tag 2 (Dienstag) - Kapitel 10
»Ich weiß, dass Sie dahinterstecken!«
Am anderen Ende der Telefonverbindung herrschte tödliche Stille. Keine Reaktion auf seine Anschuldigung.
»Ist schon okay, ich konnte ihn ja auch nicht leiden.«
Er kicherte ein wenig, als ihm einfiel, dass ›nicht leiden‹ im Zusammenhang mit der Abschlachtung des Pfarrers auf diese grausame Weise vielleicht doch ziemlich schwach klang.
»Vielleicht war Ihr Vorgehen ein wenig drastisch, aber ich kann ja verstehen, warum Sie es getan haben. Ist mir eigentlich auch egal - mir geht es nur darum, dass Sie mich nicht zwingen, mit meinem Wissen zur Polizei zu gehen.«
Ein Grunzen erklang vom anderen Ende der Leitung. »Woher haben Sie diese Nummer?«
»Ich bitte Sie, glauben Sie, ich wüsste, was ich weiß, wenn ich nicht meine Quellen hätte, beziehungsweise wüsste, wo ich mir diese Informationen holen kann?«
»Was wollen Sie?«
»Nun, ich will nicht gierig erscheinen, aber mir scheinen 500.000,- Euro keine unangemessene Summe für mein Schweigen zu sein, oder?«
»Wie stellen sie sich den Transfer vor?«
Das war schon mal gut. Er stritt die Tat nicht ab, verlor sich nicht in Drohungen oder in dem Versuch zu handeln, also hatte sein Plan gute Chancen, aufzugehen.
»Da ich ein begeisterter Fan von Krimis bin, möchte ich auf keinen Fall eine Überweisung auf irgendein Konto, denn die können nachverfolgt werden. Das wissen Sie ja sicherlich auch. Nein, ich hatte mir eine kleine Tasche mit nicht registrierten Scheinen in kleiner Stückelung vorgestellt. Nichts größer als Hunderter, aber auch Fünfziger und Zwanziger.«
»Wann?«
Der Mann fackelte nicht lange. Er stellte einfache und sachliche Fragen, hinterfragte nicht, woher er die Informationen hatte und fing nicht an zu argumentieren oder zu feilschen. Gut so.
»So schnell wie möglich. Sie haben doch sicherlich Zugriff auf reichlich Geld, da wird das doch kein Problem sein.«
»Wie kann ich Sie erreichen?«
Die Stimme am anderen Ende klang überraschend cool und unaufgeregt. Er hatte wahrhaftig etwas anderes von diesem Mann erwartet.
»Auf dieser Nummer. Es handelt sich um ein Prepaid-Handy, das nicht auf meinen Namen gemeldet ist, also dürfte es relativ sicher sein. Nun, wie sieht es aus?«
»Ich melde mich.«
Das Fehlen jeglicher Geräusche verriet ihm, dass sein Gesprächspartner unmittelbar nach dem letzten Wort aufgelegt hatte. Egal, er hatte das Gefühl, es war wesentlich besser gelaufen, als er zu hoffen gewagt hatte. Wenn er vorsichtig war, konnte er in Kürze seine Träume verwirklichen und in die Karibik abhauen. Vor seinem geistigen Auge erstreckte sich ein fast weißer Sandstrand in gleißender Sonne, einige Palmen, ein Liegestuhl und darin liegend: Er in einer grellen Bermudashorts mit einem bunten Drink mit Schirmchen in der Hand.
Kapitel 11
Pünktlich um 08:00 Uhr trafen die beiden Dienstwagen vor dem Pfarrhaus ein. Zusätzlich zu den beiden Teams Irina und Jenny, sowie Mutti und Schmuddel, waren noch zwei Streifenwagenbesatzungen erschienen, von denen eine bei der Durchsuchung unterstützen sollte und die Zweite für die Außensicherung des Gebäudes zuständig war. Sie hatten dafür zu sorgen, dass allzu neugierige Pressevertreter oder Nachbarn auf Abstand gehalten wurden.
Bereits am Abend zuvor hatte Gregor einen Anruf ihres Chefs, Dr. Lohmeyer, bekommen, der ihn nochmals daran erinnert hatte, wie sensibel das Thema eines Mordes im Umfeld der Kirche war und wie hoch das Medieninteresse daran sein würde, sobald auch nur das kleinste Detail der Tatumstände an die Öffentlichkeit dringen würde. Bislang war es noch gelungen, die Presse über die grausigen Umstände des Todes von Pfarrer Bock im Dunkel zu halten.
Gregor hatte direkt nach dem Gespräch mit Lohmeyer per SMS alle Teammitglieder davon in Kenntnis gesetzt und sie nochmals ausdrücklich um absolute Verschwiegenheit gebeten.
Das Pfarrhaus war ein kleines Fachwerkhaus direkt gegenüber der Kirche, an das ein moderner Flachbau angebaut war, der durch ein großes Schild als »Altenbegegnungsstätte« ausgewiesen wurde.
Mutti hatte wie selbstverständlich