Das Tagebuch der Patricia White. Gian Carlo Ronelli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gian Carlo Ronelli
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742796523
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schob mich die Wand entlang und schaute kurz in den Vorraum. Nichts. Sobald ich den Dielenboden betrat, wusste ein potentieller Killer anhand der Geräusche, wo ich mich befand. Ich musste schnell und entschlossen handeln. Meine tobende Wunde, in der jeder Pulsschlag einen stechenden Schmerz auslöste, war mir dabei keine große Hilfe.

      Mein Ziel war das Eck zur Eingangstür. Ich hielt die Pistole vor meine Brust und sprang mit zwei Sätzen durch die Diele. Mein Blick fokussierte die Kante. Jede verdächtige Bewegung würde ich mit einem Schuss quittieren. Doch das war nicht nötig. Am Eck angekommen, lugte ich zur Wohnungstür. Geschlossen.

      Ein Blick durch den Türspion zeigte mir, dass sich im Vorhaus niemand befand. Ich erkannte links die Lifttür und den Stiegenabgang. Rechts konnte ich nur den Gang erkennen. Schummrig, dunkel – und leer. Blieb nur die Wand, unmittelbar neben meiner Wohnungstür, wo jemand ungesehen stehen könnte.

      Ich umfasste den Türknauf und drehte ihn möglichst geräuschlos. Dann riss ich das Türblatt nach innen, blieb jedoch in der Wohnung. Nichts passierte. Ich musste mich nun für eine Seite entscheiden. Links oder rechts von der Eingangstür. War es die richtige, hatte ich einen Vorsprung von ein paar hundertstel Sekunden gegenüber der Reaktionszeit eines Menschen, der auf mich wartete. War es die falsche, war ich tot.

      Links oder Rechts.

      Leben oder Tod.

      Leben.

      Links.

      Ich hielt die Waffe an den Türstock und beugte mich vor, bereit sofort abzudrücken. An der Wand neben der Wohnung befand sich niemand. Ich erwartete einen Schuss von hinten. Wirbelte herum. Nichts.

      Dennoch fühlte ich mich beobachtet und ich achtete auf jedes Geräusch, als ich die Tür hinter mir schloss und in Richtung Fahrstuhl humpelte. Die Waffe richtete ich auf die Treppe, von der ich nur die letzten Stufen einsehen konnte.

      Ein mechanisches Seufzen hallte durch das Gebäude. Der Aufzug. Jemand benutzte ihn. Die Anzeige über der Lifttür zeigte die Zahl 3. Dann 4. Ich musste damit rechnen, dass dieser Jemand der Komplize war. Oder die Polizei. Wobei ich bislang keine Sirene gehört hatte, die die Ankunft der Polizei angekündigt hätte.

      6, 7, 8.

      Ich presste mich an die Wand rechts neben der Lifttür. Falls Polizisten in dem Fahrstuhl standen, war es so gut wie sicher, dass ich auf das Revier gebracht wurde. In meinem Appartement lag eine Leiche. Erschossen mit einer Waffe, die ich in der Hand hielt. Meine Chancen standen schlecht.

      9.

      Wenn es jedoch der Komplize war, dann bestand meine einzige Chance darin, ihn möglichst schnell zu entwaffnen und zu hoffen, dass er mir Auskünfte geben konnte, was er und sein toter Kollege in meiner Wohnung zu suchen hatten. Und was mit der Frage »Wo sind sie?« gemeint war.

      Das Klingeln hallte durch den Gang. Die Schiebetür schob sich zur Seite. Ich hielt die Waffe schussbereit in Richtung Fahrstuhl. Die Kabine wurde sichtbar. Meine Hand zitterte. Ein Gesicht. Verschwitzt und rötlich gefärbt.

      Das Mädchen, das mir beim Betreten des Hauses begegnet war.

      Schnell senkte ich meinen Arm und steckte die Waffe in den hinteren Hosenbund.

      Die Fahrstuhltür wurde aufgedrückt. Müde Augen blickten mich an.

      »Jack …«, seufzte sie.

      »Starker Lauf?«, fragte ich und hielt die Tür auf.

      »Diese Hitze …«, antwortete sie und verließ mit einem kurzen, dankbaren Nicken den Fahrstuhl. »Jetzt freue ich mich mal auf eine Dusche.«

      »Die hast du dir auch verdient.« Ich stieg in den Fahrstuhl. Ihr Blick fiel auf meinen Oberschenkel.

      »Was …?«

      »Nur ein Kratzer«, beschwichtigte ich. »Das Feuer letzte Nacht. Hab einen Nagel übersehen. Muss es mir jetzt wohl doch vom Doc anschauen lassen. Brennt wie die Hölle.«

      »Kann ich mir vorstellen.« Sie seufzte.

      »Ich muss jetzt, bevor ich hier alles voll blute.« Ich verzog mein Gesicht und deutete auf die Wunde.

      »Alles klar. Schau mal rüber, wenn du quatschen willst.«

      »Mach ich.« Ich ließ die Tür zufallen und drückte auf 1. Die Schiebetür schloss sich. Ich lehnte mich an die Holzwand. Wie eine Steinlawine überschüttete mich die Erkenntnis, dass ich soeben einen Menschen getötet hatte. Selbst die Beschwichtigung, ich hätte mich nur gewehrt, konnte diese Last nicht beiseite schaufeln. Übelkeit drückte gegen meinen Hals und ich verspürte den Drang, mich übergeben zu müssen. Ich würgte und hustete, spuckte gelben Schleim auf den Boden und begann zu hecheln.

       Komm schon, Jack. War doch gar nicht so schlimm, diesen Scheißkerl zu erledigen. Er hat es verdient.

      Nein, niemand hat das verdient.

      Ach nein?

      Nein. Ich wollte ihn nicht erschießen.

      Natürlich wolltest du das. Du bist ein verlogener Jammerlappen, Jack.

      Das Abbremsen des Fahrstuhls schreckte mich auf. Ich presste mich an die Seitenwand am vorderen Ende der Kabine und zog die Pistole aus dem Hosenbund. Langsam drückte ich die Tür auf. Horchte. Zielte auf die Wand links neben dem Lift. Lugte an der Tür vorbei. Blickte die Treppe hoch. Nichts. Blieben nur noch zwei Ecken. Zum Korridor und in Richtung Ausgang. Aber auch dort versteckte sich niemand.

      Der Weg vor dem Haus sah friedlich aus. Ein Passant stand neben der Grünfläche und betrachtete seinen Hund beim Reviermarkieren. Der Portier las in einer Zeitung. Nur das Heulen einer Sirene, nicht allzu weit entfernt, störte dieses friedliche Bild.

      Mein Blick fiel auf eine lange Reihe von Postfächern, dann auf die Waffe in meiner Hand. Ich musste die Pistole loswerden. Und zwar so, dass die Polizei nicht sofort darauf stieß.

      Der Postfachschlüssel war schnell gefunden. Er war kleiner als die anderen und passte auf Anhieb in das Schloss. Das Fach war leer. Ich legte die Waffe hinein und sperrte es ab. Dann verließ ich bemüht langsam das Gebäude.

      Der Portier blickte über den Rand der Zeitung zur Straße. Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hallten in den Häuserblocks. Reifen quietschten.

      »Was da wohl wieder passiert ist?«, fragte ich ihn und stellte mich vor den Verschlag. Er schüttelte den Kopf.

      »Die Welt ist schlecht. Nur Kriminelle, wohin man schaut.« Er drehte den Kopf zu mir.

      »Na?« Ich versuchte zu lächeln. »Jetzt schauen Sie aber mich an.«

      Er legte die Zeitung vor sich auf das Pult und hob beide Arme abwehrend in die Höhe.

      »Entschuldigen Sie, Mister Reynolds. Das war jetzt nicht …«

      »Schon gut. War nur ein Scherz.«

      Drei Wagen des NYPD bremsten. Die Türen wurden geöffnet. Polizisten rannten den Zugangsweg zum Haus entlang.

      »Wollen die zu uns?«, fragte der Portier. »Aber …«

      Einer der Beamten stoppte vor der Portierloge. »Hat jemand das Haus verlassen?«, fragte er.

      Der Portier schüttelte heftig den Kopf. Ich tat es ihm gleich, in der Hoffnung, der Schock über den Polizeieinsatz würde dem Portier weiterhin in den Knochen stecken und ihn nicht auf die dumme Idee bringen, dass ich gerade eben das Haus verlassen hatte. Ich rechnete damit, dass ihm das Offensichtliche erst später bewusst wurde. Dann, wenn ich bereits in meinem Wagen saß.

      »Gut«, sagte der Polizist. »Öffnen!« Er zeigte zur Haustür. Der Portier drückte auf den Knopf. Fünf Beamte stürmten in das Haus. Der sechste – jener, der die Frage gestellt hatte – drückte den Rücken gegen die Hauswand und gab ein Zeichen in unsere Richtung, das man als Verschwindet! interpretieren konnte.

      Hastig verließ