Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Weber-Tilse
Издательство: Bookwire
Серия: Heil mich - Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742718556
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All das gefiel ihm nicht. Er wünschte sich inständig, dass sich ihr Verhalten in den nächsten Tagen etwas bessern würde.

      ***

      Zwei Wochen waren seit Annabells Ankunft in Thompsons Retreat vergangen, doch entgegen Jonathans Hoffnungen hatte sich ihre Teilnahmslosigkeit nicht gebessert, sondern war immer offensichtlicher geworden. Schon im Therapiezentrum musste er sie förmlich zu jedem Gespräch zwingen, doch hier erreichte ihre Apathie neue Ausmaße. Annabell verweigerte regelmäßig das Essen, und verlor wieder an Gewicht. Sie zeigte kaum Engagement bei der Therapie, ihre Fortschritte verringerten sich noch mehr, seit sie hier war. Mittlerweile führte er ihr Nährstoffe über die Sonde zu, die speziell dafür gelegt und, Gott sei Dank, noch nicht entfernt worden war.

      In den Wochen, seitdem sie aufgewacht war, hatte er notgedrungen ein Gespür dafür entwickelt, ihre Mimik zu deuten. Sie sprach kaum mit ihm, und wenn, dann gab sie nur Antworten auf Fragen. Ob sie denkt, dass ich nicht merke, wenn sie mir etwas vorspielt? Er schüttelte leicht den Kopf. Annabell hielt die Augen geschlossen, ein deutliches Zeichen für ihn, das er sie in Ruhe lassen sollte.

      »Ich komme später noch einmal wieder«, sagte er leise und richtete das Betttablett so an ihrer Seite an, dass sie den Becher ohne Mühe erreichen würde, um zu trinken. In ihrer stärkeren Hand, der rechten, hielt sie einen Sender, mit dem sie durch Drücken eines kleinen Knopfes jederzeit auf sich aufmerksam machen konnte. Eine Reaktion ihrerseits erwartete er weder, noch bekam er sie. Er rechnete nicht einmal damit, dass sie etwas trank. Bedingt durch ihre anhaltend depressive Phase nahm sie viel zu wenig Flüssigkeit zu sich, was sich wiederum in Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen widerspiegelte. Zwingen konnte er sie schlecht, also musste er einen neuen Ansatz finden, um ihr zu helfen.

      Er verließ das Zimmer und marschierte die Wendeltreppe hinunter, die ins Erdgeschoss des Hauses führte. Im dortigen Wohnzimmer hielten sich erwartungsgemäß außer Emma alle Hausbewohner auf. Michael sah ihm entgegen, während Susan ein Kartenspiel mit ihrer Tochter spielte. »Boss, hast du ein paar Minuten Zeit für mich?« Sogleich trat ein alarmierter Ausdruck in dessen Miene und er winkte ab. »Nichts passiert, ich würde nur gern etwas mit dir besprechen.«

      Michael sah zu Susan, die ihm aufmunternd zunickte, ehe er sich erhob. Schnellen Schrittes folgte Jonathan ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter beiden. Nachdem sie sich gesetzt hatten, seufzte er leise.

      »Schieß los, Jon. Wenn mit Annabell alles in Ordnung ist, wie kann ich dir helfen?« Sein Boss sah ihn fragend an. Er räusperte sich, rutschte auf dem Stuhl hin und her. Er hatte keine Ahnung, wie er das, was er sagen wollte, so verpacken könnte, dass es Michael nicht das Herz zerriss. »Du solltest darüber nachdenken, deine Schwester noch einmal fortzuschicken«, sagte er daher geradeheraus und wappnete sich innerlich für den Zornesausbruch, der jetzt folgen würde.

      Doch sein Gegenüber starrte ihn nur mit offenem Mund an.

      »Sie ist unglücklich. Schon seit Wochen. Aber ihre Apathie erreicht neue Ausmaße und ich mache mir ernsthaft Sorgen«, versuchte er zu erklären, aber Michael schüttelte heftig den Kopf.

      »Vergiss es. Sie ist gerade erst Zuhause angekommen, da werde ich sicher nicht darüber nachdenken, sie wieder fortzuschicken! Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Michaels Faust donnerte auf den Tisch und nun funkelte er ihn doch zornig an. Jonathan schloss langsam die Augen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zählte er in Gedanken.

      »Annabell ist todunglücklich! Willst du mir erzählen, dass du das nicht gemerkt hast? Das geht seit Wochen so. Sie denkt, mir fällt das nicht auf, aber ich bin ja nicht blöd! Es war schon in der Klinik schlimm mit anzusehen, aber mittlerweile leidet ihr Gesundheitszustand darunter«, erwiderte er, so ruhig er nur konnte.

      Sein Chef wurde mit jedem Wort, das er hervorbrachte, blasser. Es vergingen einige Sekunden, bis er sich fing und räusperte. »Aber warum, Jonathan? Ich begreife es nicht.« Michael lehnte sich im Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

      »Du kannst es gar nicht verstehen, wie denn auch? Wie solltest du nachvollziehen können, wie sich deine Schwester gerade fühlt? Stell dir vor, wie sich die ersten Minuten anfühlen, wenn du mit einem dicken Kater aufwachst. Du kannst dich kaum bewegen, der Kopf dröhnt, als sei er eine Zeitbombe, du erinnerst dich nicht mehr daran, was du gestern Abend getan hast.« Jonathan beugte sich nach vorne und erwiderte Michaels Blick ernst. »Und jetzt ... multipliziere das Ganze mit Faktor 100. Dann weißt du, was Annabell gerade durchmacht.«

      »Und was denkst du, was ich tun sollte, mhm?«

      Jonathan erhob sich, trat um den Schreibtisch herum und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass sie gehen, sofern sie es möchte. Denn wenn sie dann wiederkommt, geschieht es aus eigenem Willen. Gib ihr die Chance auf eine freie Entscheidung. Das ist alles, was sie im Moment noch hat«, sagte er leise. »Stell deine Wünsche hinten an und sprich mit ihr.«

      Michael schwieg eine Weile, nickte dann langsam und seufzte tief. »Du hast Recht. So schwer mir fällt, das zuzugeben.« Er erhob sich schwerfällig. »Danke, Jon. Ich schätze, ich habe deine offenen und harten Worte wirklich gebraucht.«

      Jonathan lächelte nur leicht. »Michael, du bist nicht nur der, der mein überaus großzügiges Gehalt bezahlt, sondern auch mein Freund. Wer, wenn nicht ich sollte ehrlich zu dir sein? Und jetzt geh. Geh zu Annabell, und frag sie, was sie will.«

      Annabell

      Zeit war bedeutungslos. Diese zog vorbei, ließ sich nicht fassen. Jeder Tag glich dem anderen und nur selten zeigte sich ein winziger Lichtblick. Ansonsten gab es keine Schattierungen, sondern nur eine stetig anherrschende Dunkelheit, die sie mehr und mehr verschlang.

      Sie verlor sich immer mehr und die Übungen, die Jonathan mit ihr machte, ließ sie einfach nur über sich ergehen. Hatte sie anfangs noch mitgeholfen, so schaltete sie ab, um nicht mehr die andauernden Schmerzen ertragen zu müssen. Es gab nichts, wofür es zu kämpfen lohnte.

      Jeder der sie besuchen kam, versuchte, Gespräche mit ihr zu führen. Doch sie antwortete nicht mehr. Niemandem. Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Doch keiner von ihnen ließ sie ihr. Anstatt zu akzeptieren, wurden ihr Erinnerungen aufgedrängt, an die sie sich nicht erinnern konnte.

      Emma, deren Namen kurz in ihrem Gedächtnis herumgegeistert war, saß oft an ihrem Bett und erzählte Geschichten von Michael und ihr. Sie berichtete mit so viel Liebe und Wärme und doch erreichte keines dieser Gefühle ihr Herz. Dieses war kalt und schlug einfach nur noch zur Lebenserhaltung in ihrer Brust. Und jeden Tag hoffte sie, es würde endlich seinen Dienst aufgeben, damit sie keinen weiteren Tag mehr ertragen musste.

      »Tanteee«, krähte da die Stimme von Cassy neben ihrem Bett. Schwerfällig wandte sie den Kopf zu dem Kind. Es war Michaels und Susan Tochter und auch wenn man ihr gesagt hatte, dass sie das Kind nicht kennen konnte, so war Cassandra dennoch die Einzige, die etwas in ihr auslöste, dass sie nicht beschreiben konnte.

      Die Kleine setzte sich zu ihr auf das Bett und hielt ihr den Trinkbecher hin. »Mommy sagt, du musst mehr trinken.«

      Der Strohhalm kratzte über ihre Lippe, sie öffnete den Mund und trank ein paar Schlucke. Glücklich klatschte Cassy in die Hände, nachdem sie den Becher wieder zurückgestellt hatte, und freute sich. Das war einer der wenigen Momente, die Annabells Herz nicht mehr ganz so kalt ließen.

      »Schatz, würdest du bitte zu Mom gehen? Ich habe etwas mit deiner Tante zu besprechen«, erklang Michaels Stimme von der Tür.

      Übermütig sprang Cassandra, wie sie eigentlich hieß, vom Bett und warf sich erst einmal laut jauchzend ihrem Vater in die Arme.

      Wäre sie auch eine gute Mutter? Konnte sie überhaupt noch Kinder bekommen? Annabell schüttelte die Gedanken ab. Das war egal. Sie würde es nie herausfinden, denn die Tage, die sie noch auf Erden hatte, waren bereits gezählt.

      Ihr Bruder trat an das Bett und wie zuvor seine Tochter setzte er sich auch an ihre Seite.

      »Jonathan hat Recht«,