Noch interessanter schien die Zingulotomie zu sein. Das Verfahren veränderte die Psyche eines Menschen irreversibel. Er sollte herausfinden, welchen Bereich des Gehirns er bearbeiten musste. Eventuell reichte es aus, den Antrieb des Mädchens operativ zu entfernen. Initiative, Motivation, Wille, Ehrgeiz, alles unnötige Eigenschaften für eine Frau. Er würde für ihre Versorgung zuständig sein. Für immer!
Könnte er sich eine Neurochirurgie aufbauen? Eine Möglichkeit wäre es. Er wollte nichts überstürzen, aber es lohnte sich, darüber nachzudenken. Er hasste Theorie. Wie sah denn in dem Fall die Praxis aus? Für einen Erfolg musste er zahlreiche Experimente durchführen. Er stellte sich die benötigte Anzahl der Mädchen vor. Frustrierend! Zuerst muss er sie in einen geheimen Operationssaal entführen. Dazu gehörte die komplette OP-Ausrüstung inklusive einer ordentlichen Anästhesie. So ein Projekt war mühsam und es sah nach Arbeit aus. Er scheute es, unangenehme Dinge eigenhändig durchzuführen.
Ramires würde ihn dabei nicht helfen können, er war zu grobschlächtig. Der könnte dann nur die Misserfolge beseitigen. Es formten sich Bilder von Frauen mit abgehobenen Schädelplatten und fehlenden Regionen im Gehirn. Das ist für Kunst der falsche Weg. Die Vorstellung verursachte einen tiefen Seufzer, mit dem er diese Idee verwarf. Offene Schädel waren grässlich, ein perfektes Mädchen sah anders aus.
Welche Möglichkeiten gab es noch? Zuhälter machen sie sich gefügig, indem sie ihnen permanent mit massiver Gewalt drohen. So etwas färbt auf die gesamte Psyche ab. Schrecklich! Dafür fand er sich zu künstlerisch und feinsinnig veranlagt.
Manche Nutten werden durch Drogen in eine Abhängigkeit getrieben. Sie betteln regelrecht darum, für einen Schuss alles machen zu dürfen. Konnte es einen Weg geben, die Sucht nach chemischen Substanzen stilvoll zu gestalten?
Sollte er ein Mädchen an die Nadel hängen? Was für ein perfider Gedanke! Das war ohne Niveau und widerwärtig, das Gegenteil von Kunst. Der Effekt rückte allerdings schon in die Nähe dessen, was er sich vorstellte. Eine von Drogen abhängige Frau würde sich frei bewegen. Sie könnte auch eigene Entscheidungen treffen. Die Wünsche, die in ihrem Kopf entstehen, sind nicht hineingeprügelt. Ihr Verlangen wird leider einseitig auf die Beschaffung des Stoffs ausgerichtet sein. Weswegen soll sie ihn dann lieben? Klar, sie müsste alles tun, was nötig war, um an den nächsten Schuss zu gelangen. So weit kannte er diese Szene. Das war nicht ein Dienen, wie er sich das vorstellte. Außerdem ging ein körperlicher und geistiger Zerfall bei Abhängigen schnell voran.
Ein solches Mädchen würde nicht lange attraktiv bleiben. Ein Jahr, wenn alles gut lief. Von der anderen Seite betrachtet, danach sollte es ohnehin langweilig werden. Seine Planungen reichten deutlich weiter! Über eine Tatsache war er sich klar: Mit einer Drogenabhängigen konnte es keine harmonische Beziehung oder wirkliche Liebe geben. Sie müsste es aus tiefster Seele hassen, für einen Schuss mit ihm zu ficken. Beim Vater hatte er genau das erlebt. Der hatte die Frauen durch Macht und Erpressung dazu getrieben, ihm sexuell zur Verfügung zu stehen. Zwang und Nötigung sind für einen Künstler ungeeignete Methoden.
Gab es eine überlegenere Lösung? Das Mädchen durfte nicht merken, dass es manipuliert wurde. Die Strategie lag auf der Hand, das Opfer sollte nicht erkennen, von Drogen abhängig zu sein. Damit schied die Spritze aus. Ein befreiender Seufzer der Erleichterung, er musste scharf nachdenken.
»Es gibt mit Sicherheit schöpferische Alternativen.«
Zart
Es stinkt! Ich erkenne Schweißflecke unter seinen Achseln, im Büro schwebt der Mief abgestandenen Kaffees und bei mir kocht Adrenalin über.
»Wann haben Sie sich wieder getroffen?« Heinzinger benutzt den Ausdruck ›wieder‹ als Fangfrage, so als gäbe es mehrere Verabredungen.
»Lassen Sie bitte diese Wortspiele! Wir haben uns nicht ›wieder‹ getroffen. Vor zehn Tagen kam sie nach der Vorlesung zu mir. Im Hörsaal hatte ich sie nicht bemerkt. Wahrscheinlich wartete sie das Ende im Foyer ab. Sie wollte sich noch einmal bedanken. ›Ich habe erkannt, dass eine Arbeit mit derart schwieriger Klientel zu belastend ist. Ich werde ein Jahr Auszeit nehmen. Für eine Entscheidung fühle ich mich nicht reif genug!‹. Das hat sie gesagt, dabei hat sie die ganze Zeit meine Hand gehalten. Das empfand ich einerseits als angenehm, andrerseits ungewöhnlich für ein so junges Mädchen.«
»Wollte Johanna Bora Sie anmachen? Hat dieser Händedruck Sie sexuell erregt?« Über seine Frage muss ich tatsächlich nachdenken. »Nein, es war eher wie ein Tochter-Vater-Verhältnis. So hat sie das auch gesehen.«
»Fällt Ihnen Weiteres zum letzten Tag ein? Wurde sie von jemandem abgeholt, hatten Sie den Eindruck, sie schaute auf die Uhr, wurde erwartet oder gab es andere Auffälligkeiten?« Heinzinger merkt die angespannte Atmosphäre und rudert zurück.
»Nein, das war alles. Doch, eine Sache, die Halskette! Sie hielt einen Anhänger, es war eine goldene Rose, zwischen den Fingern und drehte sie immer wieder herum. Das ist ein Tick, den viele Mädchen mit neuen Schmuckstücken machen.« Dieses Detail ist mir erst jetzt eingefallen. »Allerdings kann ich mich an die Kette bei unserem vorherigen Treffen nicht erinnern. Sie muss sie später bekommen haben.«
Er scheint interessiert und beugt sich vor. »Eine Rose? Können Sie die beschreiben?«
»Nicht genau. Sie war klein, höchstens einen Zentimeter im Durchmesser, aus glänzendem Gold oder vergoldet. Die Kette sah nicht alt aus, moderner als ein Familienerbstück.«
Durch ihre Drehbewegung mit ihren Fingern musste ich den Schmuck näher betrachten. Heinzinger wirkt zum ersten Mal aufgeregt. Das Detail ist also wichtig. Es bedeutet, eine Kette wurde nicht bei ihr gefunden. Fleißig schreibt er in sein Buch und kommt abrupt auf ein anderes Thema.
»In ihrer Schnupperstunde haben sie über den Fall Paul Berger berichtet. Auch die Attacke mit einem Gegenstand auf den Kopf war dabei. So was scheint Ihnen wenig auszumachen. Nicht jeder schafft es, unbeteiligt darüber zu berichten. Warum können Sie das?«
Heinzinger kritzelt in seinem Block herum. Er will mir das Gefühl geben, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.
»Ist sie so gestorben? Wurde Johanna Bora durch Schläge auf den Kopf getötet? Das ist ja schrecklich! Sie sah so zart und verletzlich aus.«
Er sieht nicht auf: »Beantworten Sie bitte die Frage.«
Es ist unglaublich. Es wird mir als Motiv ausgelegt, über Gewaltdelikte im Arbeitsumfeld des Studiums zu berichten. Langsam werde ich böse.
»Hören Sie, dieser Kasus Berger ist ein Teil unseres Berufes als Sozialarbeiter. Es wird immer wieder solche Fälle geben, die Studenten sollen lediglich darauf vorbereitet sein. Und nein, es macht weder Spaß noch verspüre ich heimliche Schadenfreude, wenn ich über derartige Vorfälle berichte. Nur halte ich für meine Pflicht, es zu tun.«
»Sie hatten also mit dieser zarten und verletzlichen Johanna Bora ein Verhältnis? Deshalb haben Sie sich mehrmals getroffen? Ja klar, sie musste ja auf ihre Arbeit vorbereitet werden! War es so?«
Jetzt reicht es mir endgültig.
»Raus, sofort raus! Verlassen Sie auf der Stelle mein Büro!«
1979 bis 1985: das Erwachen
Die Kamera fiel krachend in den Papierkorb, als er mit der Stirn auf die Platte des Schreibtisches aufschlug. »Ich muss in der Vergangenheit suchen! Warum habe ich damals nicht einen Fotoapparat benutzt?«
Bis zu einem Alter von zwölf Jahren hatte er keinen Vergleich ziehen können, wie es in anderen Haushalten zuging. Die Dominanz des Vaters und die Unterwürfigkeit der Mutter hielt er für völlig normal.
Hatte ihn das geprägt?
»Ist er ein Vorbild? Soll ich so werden wie er?« Ihr Gesicht wurde vom Dunkel überzogen. »Du musst dich mehr anstrengen, um später die Firma übernehmen zu können. Hast du denn nicht bemerkt, dass er zu viele negative Seiten aufweist?« Ja, von denen wusste er. Nur die Sache mit der Abhängigkeit war beeindruckend. Die Mutter, Maria das Hausmädchen, Dutzende Geliebte,