Das Haus war altenglisch und sehr aristokratisch eingerichtet. Man kam sich fast vor, wie in einem alten Kitschroman mit Salon und Kaminzimmer.
Passt zu ihm!
Die Situation amüsierte mich, daher konnte ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Ich betrat das hell erleuchtete Esszimmer im Erdgeschoss des Hauses. In der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch oder besser: eine Speisetafel aus altem Familienbesitz. Der Tisch bot genug Platz für eine zwölfköpfige Familie. Ich fragte mich, ob die Stonehavens überhaupt Kinder hatten.
Mrs. Stonehaven hatte mehr als zwanzig Kerzen angezündet. Die Atmosphäre des Raumes passte hervorragend zu ihrem Kleid und der hochgestochenen Ausdrucksweise in diesem Haus.
Mein Professor erwartete mich bereits mit einer Porzellanpfeife im Mundwinkel. Auch er hatte sich extra schick gemacht. Er trug ein dunkelgrünes Herrenjaquette mit Lederbesatz an den Ellenbogen, dazu ein weißes Hemd und die obligatorische braune Fliege.
»Guten Abend, meine Liebe, es gibt Roastbeef mit Yorkshire-Pudding, eine Spezialität meiner Frau. Sie backt ihn traditionell im Ofen zusammen mit dem Roastbeef. Der Eierkuchenteig wird so mit dem Bratensaft betropft, und das gibt ihm zusätzlich Aroma. Ein Gedicht, glauben Sie mir! Bitte setzen Sie sich, Miss Pickering, ich hoffe, Sie haben gut herge-funden?« Er deutete mir meinen Platz an.
Ich fügte mich dem Abendprogramm.
Das Essen war wunderbar. Gesprochen wurde während der Mahlzeit nicht. Ich fühlte mich in der Zeit zurückversetzt und passte meine Tischmanieren der herrschaftlichen Situation an.
Gut, dass ich dank Mom nicht wie ein Schwein fresse.
Nach dem köstlichen Trifle, einer Süßspeise bestehend aus mehreren Schichten Obst, in Sherry getränktem Biskuit und Schlagsahne, wechselten wir in den Salon. Dieser befand sich zu meiner großen Freude gleich im Nebenraum, denn Treppen hätte ich in diesem übersättigten Zustand nur noch rollend mit Anschub bewältigt. Im Salon verbreitete das lodernde Kaminfeuer wohlige Gemütlichkeit.
Mir wurde schnell zu warm, daher stellte ich mich nah an das leicht gekippte Fenster. Die Hoffnung, etwas kühlende Luft durch den Spalt abzubekommen, war trügerisch, denn es war nicht die kühle Brise, die mich erschaudern ließ. Da lag wieder dieser unerklärlich vertraute Geruch in der Luft.
Das kann jetzt nicht sein!
Augenblicklich wechselte ich meine Position hinüber zum Lederohrensessel, der direkt neben dem Kamin stand. »Dann doch lieber zu warm als schon wieder Wahnvorstellungen«, erklärte ich mir im Stillen selbst und strich zufrieden über meinen aufgeblähten Bauch.
Mit einem Umschlag in der Hand kam Professor Stonehaven auf mich zu und lächelte durch seinen Schnurrbart: »Herzlichen Glückwunsch, meine liebe Juliette, Sie haben uns alle beeindruckt.«
Die Zusage für meine Forschungsstelle.
»Vielen, vielen Dank, Sie wissen ja nicht, was mir das bedeutet!« Ich sprang überglücklich auf und umarmte meinen Professor. Wahrscheinlich war meine Reaktion für ihn unangebracht und übertrieben, aber er wehrte sich nicht.
»Das haben sie sich verdient, meine Teuerste«, antwortete er ein wenig überrumpelt und erwiderte zaghaft meine Umklammerung. Seine Frau hingegen umarmte mich sofort herzlich und servierte etwas Hochprozentiges, um auf meinen Erfolg anzustoßen.
Eine halbe Stunde Smalltalk später machte ich mich auf den Heimweg. Die Schnäpse zeigten deutlich ihre Wirkung, besonders bei meinem Professor. Mrs. Stronehaven nahm ihm den Letzten wieder aus der Hand: »Barclay, mein Lieber, ich glaube, den trinken wir ein andermal.« Sie strich dabei liebevoll über seinen Kopf. Ein Anblick, den ich bei einer Mutter mit ihrem Kind erwartet hätte.
Sie hat die Hosen an. Eindeutig! Bei diesem Gedanken huschte mir unweigerlich ein Grinsen durchs Gesicht.
Die Stadt lag in dunkelste Nacht eingehüllt, nur einige der Straßenlaternen flackerten gelegentlich unruhig auf. »Das war ein wirklich schöner Abend«, seufzte ich vor mich hin, als ein Auto rücksichtslos durch eine große Pfütze neben mir fuhr.
»Mistkerl!«, brüllte ich und sprang zeitgleich einen riesigen Satz zur Seite. Dann fluchte ich durchnässt und mit den Armen fuchtelnd dem Raser hinterher.
Ich weiß nicht mehr, warum ich den zweiten Wagen nicht kommen hörte, aber als ich die Straße überqueren wollte, kam dieser nur Zentimeter hinter mir zum Stehen. Die Bremsen quietschten laut auf und es roch nach verbranntem Gummi. Geschockt stand ich wie angewurzelt auf der Straße und schaute ungläubig auf die komplett abgedunkelten Scheiben des silbernen Jaguars.
Als ich mich gerade erholte, heulte der Motor erneut auf. Das Fahrzeug bewegte sich nun direkt auf mich zu. Wie automatisch reagierte ich mit einem Schritt zurück. Dann wiederholte mein Gegenüber dieses ungleiche Spiel. Nun bekam ich es langsam mit der Angst zu tun, gleichzeitig stieg auch Zorn in mir auf.
»Hey, noch einmal und...«, zischte ich und wollte noch anfügen: »…ich hol dich aus deiner Karre raus«, aber entschied mich lieber fürs Laufen, als der Wagen wiederum Jagd auf mich machte.
Ich rannte die Straße hinunter, dabei brach der Absatz meines linken Schuhs ab. Unbeeindruckt lief ich weiter und weiter. Der Wagen donnerte mir hinterher, er gab Vollgas und in den Kurven jammerten seine Reifen erbärmlich. Dicht blieb er mir auf den Fersen. Wie ein kalter Hauch im Nacken. Es gab keine Chance für mich, von der Straße wegzukommen und ihm so die Möglichkeit, auf Anschluss zu nehmen. Selbst meine läuferischen Fähigkeiten halfen mir nicht, meinen Verfolger abzuschütteln.
Da passierte es. Ich war unachtsam und gehetzt über einen erhöhten Pflasterstein gestolpert. Mitten auf der Straße kam ich zum Liegen. Mein Angreifer hatte freie Fahrt. Zum Entkommen war es zu spät. Ich zog nur noch instinktiv die Beine an, schloss die Augen und wartete auf den Aufprall. Mein Herz raste. Ich hielt die Luft an und dann...Nichts! Der Wagen wurde plötzlich langsamer und bog in die Seitenstraße rechts vor mir ab.
Ich brauchte einige Sekunden, um die neue Situation einzuschätzen, dann drehte ich mich völlig erledigt auf den Rücken.
»Was war das denn jetzt?«, fluchte ich keuchend dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Mein Knie schmerzte und erst jetzt bemerkte ich die blutende Schürfwunde, die ich mir während der Rutschpartie auf dem harten Asphalt zugezogen hatte.
***
Readwulf saß in seinem Jaguar vor dem Haus seiner Zielperson. Er beobachtete sein Opfer nun schon seit zwei Stunden aus sicherer Entfernung. Mit Mozarts Streichquartetten und einer Zigarette vertrieb er sich die Zeit. Er war eigentlich kein Raucher. Nur ab und zu gönnte er sich einen Glimmstängel, und diese Observationen waren wie geschaffen dafür.
Jetzt kam Bewegung ins Spiel, doch er kannte ihren Weg bereits. Er verfolgte Juliette bis zum Haus der Stonehavens. Sie hatte es nicht eilig und genoss die milde Abendluft.
Dann verschwand sie im Haus ihrer Abendeinladung, und Readwulf machte sich daran, seinen neuen Beobachtungsposten in Beschlag zu nehmen. Die Straße war nicht sehr belebt, sein Sichtfeld gut gewählt, daher entging ihm die feierliche Situation im Haus nicht. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen, bis man die Räumlichkeiten wechselte. Er verließ sein sicheres Versteck und schlich zur Hinterseite des Hauses. Sie stand am Fenster, als er um die Ecke bog. Gerade noch so konnte er unter dem Fenstersims in Deckung gehen. Beinahe hätte sie ihn gesehen.
Puh, knapp! Wie unprofessionell von mir. Readwulf begab sich eiligst wieder in seinen Wagen. Lange dauerte es nicht, bis sich die Haustür öffnete und eine herzliche Verabschiedungsszene zu sehen war.
Er fühlte sich zerrissen. Sollte er ihr noch Zeit geben? Wollte er wirklich wissen, warum Darius ihn beauftragt hatte? Niemals hatte er einen Auftrag hinterfragt. Er zweifelte auch jetzt nicht