"Du weisst doch genau, dass du mir das nicht erzählt hast. Meine Güte!"
"Sie finden in Leszno statt, das ist in Polen. Mein Chef Danny sponsert mich und stellt mir seine eigene brandneue Ventus zur Verfügung. Er macht das natürlich nicht, weil er mich so gern hat. Als Aushängeschild braucht er mich, klar. Um ehrlich zu sein, Danny ist ein ziemlicher Mistkerl, aber seine Maschine ist wunderschön. Ich habe sie Southern Cross getauft."
Lindy begann von ihrem Chef Mr. Wu zu erzählen, und von dort kamen sie irgendwie zur Menschenrechtsbewegung in China. Als die Teller abgeräumt wurden, diskutierten sie hitzig über Kennedys Schuld am Vietnamkrieg. Robin spielte den Teufelsadvokaten, aber das ließ Lindy nicht auf ihrem Lieblingspolitiker sitzen. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so saftig mit jemandem gestritten hatte, und wann ein Gespräch ihr zuletzt soviel Spaß gemacht hatte.
Während die Stunden verstrichen, leerte sich das Restaurant allmählich. Aber am Ecktisch saßen Lindy und Robin sich noch immer gegenüber. Kennedy ließen sie längst wieder friedlich in seinem Grab ruhen, irgendwie waren sie beim Thema alte Freunde aus dem Studium gelandet und wie man über Facebook den Kontakt zu ihnen halten konnte.
„Ich bin immer noch nicht bei Facebook“, gestand Robin. „Reizt mich einfach nicht.“
Lindy verzog das Gesicht. „Und ich habe mich wieder abgemeldet, nach diesen ganzen Datenschutzskandalen. Aber dafür habe ich neulich live und ganz in echt Malcolm und Tom getroffen, stell dir das vor – sie sind bei Harding & Brown, stell dir das vor. Dort wollten sie doch eigentlich nicht hin." Die Weinkaraffe vor ihr war leer, und ihre Wangen fühlten sich heiß an, wahrscheinlich waren sie rot wie Tomaten. Sie trank selten so viel. "Und Melissa arbeitet bei Main Score. Sie sind also alle im Management gelandet."
Robin ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht. "Klar. Wie geht's ihnen? Hat sich Tom wirklich den BMW gekauft, von dem er immer geträumt hat?"
"Kann sein, danach habe ich ihn nicht gefragt. Um ehrlich zu sein, es war ein bisschen abstoßend", gestand Lindy. "Alle, die ich getroffen habe, haben sich ziemlich verändert."
"Klingt logisch", sagte Robin ruhig. "Ich habe mich auch verändert."
"Ja, du bist anders geworden ... aber du legst nicht so einen schrecklichen Wert darauf, andere zu beeindrucken. Unter meinen Freunden ..."
" ... die auch mal meine Freunde waren, vor der Tocumwal-Ära ..."
" ...kommt es doch nur darauf an, den richtigen Lebensstil zu haben. Stil! Ich glaube, ich habe das Wort ein paarmal zu oft gehört. Es traut sich ja keiner mehr, einen eigenen Geschmack zu haben. Wenn der seiner Clique nämlich nicht gefällt, dann ist er auf einmal der Trottel vom Dienst."
"Ich weiß", sagte Robin Cameron. "Das weiß ich leider noch ziemlich gut."
Lindy sah in seinem Gesicht, dass die Erinnerung bitter schmeckte, doch sie konnte nicht mehr aufhören zu reden, die Worte bahnten sich ihren Weg nach draußen. "Man kann nicht mehr den kleinsten Misserfolg eingestehen. Das würde ja bedeuten, dass man nicht mehr zu den Gewinnern gehört ... Mein Gott, wenn ich daran denke, was aus den anderen geworden ist, bin ich fast froh darüber, dass du nach Tocumwal gegangen bist ..."
Sie merkte, dass Robin sie verblüfft anstarrte.
"Manchmal glaube ich, dass du doch das Richtige getan hast", wiederholte Lindy.
"Du musst wirklich beschwipst sein", sagte Robin sanft.
Ein Kellner nutzte ihre kurze Gesprächspause, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass das Restaurant gleich schließen würde. Verlegen räumten Robin und Lindy ihre Sachen zusammen. Als sie das Restaurant verließen, wurden hinter ihnen bereits die Lichter ausgeschaltet.
Einen Moment lang standen sie gemeinsam auf dem Bürgersteig.
"Na ja, so schlimm war das Wiedersehen doch gar nicht, oder?" meinte Robin. "Zumindest haben wir uns nicht die ganze Zeit gestritten. Vielleicht haben wir doch was gelernt in diesen drei Jahren."
Lindy zögerte, wollte nicht daran denken, dass sie ihn nach diesem Abend vermutlich wieder ein paar Jahre lang nicht sehen würde. Ich liebe ihn nicht mehr, schon längst nicht mehr – und zu Hause wartet Anthony auf mich, sagte sie sich trotzig, doch eine kleine Stimme in ihrem Inneren lachte höhnisch.
"Wo steht dein fahrbarer Untersatz?" fragte Robin. Seine Augen blickten seltsam, braun waren sie jetzt, und Lindy konnte ihren Ausdruck nicht deuten. "Ich bringe dich noch hin."
"Richtung Park", sagte Lindy vage, und sie machten sich gemächlich auf den Weg. "Fährst du immer noch deinen blauen Ford? Ich wette, du hast wieder nicht abgeschlossen."
Er zuckte die Schultern. "Kann sein. Und wenn schon – den klaut keiner mehr. Siehst du, das ist einer der Vorteile, wenn man keinen schicken BMW hat."
Entspannt, zufrieden gingen sie nebeneinander her und erreichten bald die ersten Grünflächen. Neben ihrem roten Mitsubishi blieb Lindy schließlich stehen.
"Na, dann ...", sagte Robin, aber Lindy machte noch keine Anstalten einzusteigen.
"Weißt du, wenn du nur angerufen hättest ... nach dem großen Krach ... dann wäre es vermutlich ganz anders gekommen", sagte sie und achtete darauf, dass ihre Stimme sachlich klang. Sie fühlte sich schutzlos. Eine witzige Bemerkung von ihm hätte sie jetzt nicht verkraften können. "Aber wir waren wahrscheinlich beide zu stolz dafür."
Nein, er machte keine witzige Bemerkung. Er sah nur in eine andere Richtung, und seine Stimme klang seltsam, als er sagte: "Und ich wünschte, ich hätte mein Temperament damals ein bisschen besser unter Kontrolle gehabt ..."
Lindy spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Mach dir keine großen Hoffnungen, Lin, dachte sie. Er arbeitet nur die Vergangenheit auf.
"Mein Hitzkopf war auch nicht gerade von Pappe", gab sie zu. "Schon erstaunlich, dass man in einer einzigen Nacht alles kaputtmachen kann, was man in Jahren zusammen aufgebaut hat."
"Nein, nein, so war es nicht“, widersprach er. „Der Streit war nicht Ursache, sondern Wirkung. Wir hatten einfach beide verschiedene Wege eingeschlagen und sind sie gegangen, koste es, was es wolle."
"Warum haben wir dann den Kontakt abgebrochen? Das hätte nicht sein müssen."
Robin zögerte eine Sekunde lang, bevor er zugab: "Es hat zu weh getan."
"Na ja, inzwischen wissen wir wohl beide, dass Beruf und Selbstverwirklichung allein nicht glücklich machen."
"Hätten wir damals auch schon kapieren können."
Lindy lachte verlegen auf. "Weißt du was, du Mistkerl? Ich habe mir all die Jahre gewünscht, dass du zurückkommen würdest."
Sie blickte ihn an und versuchte, aus dem Tumult in ihrem Inneren schlau zu werden. Wir haben uns so weit voneinander entfernt, dass wir kaum noch Gemeinsamkeiten haben, dachte sie. Es würde nicht mehr funktionieren!
Aber aus irgendeinem Grund genügte der Gedanke nicht, um ihre Pulsfrequenz wieder auf normales Maß zu senken. Ihr Hirn wusste, dass es mit ihnen vermutlich keinen Sinn hatte, so wie sie jetzt waren, aber gleichzeitig wünschte sie sich Robin zurück, und das mit einer Sehnsucht, die sie selbst erstaunte. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass sie sich vielleicht die letzten drei Jahre lang angelogen hatte, dass sie damals vielleicht eine Chance weggeworfen hatte, wie man sie nur ganz selten bekam.
Von ihm kam nichts, er ging schweigend neben ihr her, als habe er sie überhaupt nicht gehört.
In Lindys Magen war ein scheußliches Gefühl, so als habe sie Spinnweben und Backsteine gegessen statt Seeteufelmedaillons mit Pinienkernen.
"Auf jeden Fall wünsche ich dir für die Zukunft alles Gute", sagte sie. "Wir sollten uns jetzt besser auf den Heimweg machen ..."
Ganz plötzlich drehte er sich