M lächelte zufrieden, dass sein Vorsitzender die Meldung seiner kurzen Auszeit vor wenigen Tagen so präsent hatte, und wertete das als Wertschätzung und kollegiale Fürsorge seiner Person. Zugleich wurde ihm klar, dass er selbst wohl nie Fraktionsvorsitzender werden könne, weil ihm gerade solche Eigenschaften völlig fehlten. Über ihn könnten nie Geschichten erzählt werden wie über den netten Mann, der ihm gegenüberstand, der den Seinen vor allem dann zur Seite trat, wenn Hilfe wirklich geboten war oder wenn sich jemand an den Rand seiner Kräfte gedrängt fühlte. M bedankte sich für die freundliche Nachfrage und beteuerte, dass er sich wieder sehr gesund fühle. Hin und wieder gebe es Probleme mit dem Magen. Aber um die müsse man sich keine Sorgen machen. Er habe sie im Griff.
„Mein Freund“, kam der Fraktionsvorsitzende mit Blick auf seine Uhr schnell zur Sache, „Sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet, für die ich Ihnen aufrichtig zu danken habe. Mit Ihrem Bericht bin ich nun besser informiert, obgleich ich mir redliche Mühe geben musste, mich durch den Informationsdschungel zu schlagen. Kompliment, wie sie die klaren Linien aus Fakten und Schlussfolgerungen gezogen haben. Keine Frage, wir müssen einen solchen Vorgang sehr ernst nehmen. Da haben Sie völlig recht.“
M musste sich Mühe geben, seine Glücksgefühle nicht zu offen zu zeigen. Er hatte sich nach vorne gebeugt, um gekonnt die Tasse Kaffee wieder auf den niedrigen Besprechungstisch zu positionieren. In die kurze Sprechpause sagte er: „Wir müssen wohl lernen, getrennt voneinander stattfindende Ereignisse wie Attentate in Zusammenhängen zu sehen. Die Täter, ob im Irak, in Syrien, Libyen, Nigeria, Afghanistan oder in unserem Falle ein Co-Pilot eines Airbus-Flugzeuges, tun alle das Gleiche: Sie reißen unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Allein deshalb müssen sie unsere Feinde sein.“
Der Fraktionsvorsitzende war verschlossener und ernster geworden. Nun kam die Phase – M ahnte es – in der das Konsensband gedehnt würde. Sein Gesprächspartner nahm den Ball von M auf und stellte nun, mit deutlich gepresster Stimme, seinerseits Reihen von Ereignissen zusammen, was Andreas Lubitz möglicherweise mit anderen Attentätern gemeinsam hatte, betonte aber auch solche Aspekte, wie sich die kriegerischen Anschläge der Islamisten von der Flugzeugkatastrophe unterscheiden lassen. Dem folgte M sehr aufmerksam, wobei in seinem Kopf gleichzeitig das Bild seiner Wahrsagerin lebendig war, wie sie ihm die Reihe zeitgeschichtlicher Katastrophen der Gegenwart aufgezählt hatte, in denen Politik versage, weil sie deren Zusammenhänge nicht erkennen würde. Der Fraktionsvorsitzende schloss aus seinen Aufzählungen: „Es gibt Katastrophen, die weit ins Politische reichen, keine Frage. Aber sie sind nicht strategisch verursacht, weil sie die Folge eines verrückten oder kranken Einzelgängers sind. Nehmen Sie unseren tapferen und pflichtbewussten Finanzminister. Er sitzt im Rollstuhl, weil er das Opfer eines Attentats ist. Aber der Täter war krank. Deshalb können wir doch nicht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit suspendieren.“
„Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.“ M wollte nun wieder der meisterliche Taktiker sein. „Sie haben von mir einen Bericht gefordert, nur für Sie allein. Es geht mir nicht um ein öffentliches Statement, nicht um die Vorlage einer Presseerklärung. Ich wollte nichts anderes, als Ihnen höchstpersönlich ganz am Anfang einer Debatte, von der wir nicht wissen können, ob sie je zu Ende geführt wird, eine Richtungswertung nahelegen, mit der wir den Kreis unserer Gefährdungen erweitern und zugleich mit anderen Gefährdungspotenzialen verbinden, deren Hintergründe wir bereits besser durchschauen.“ Es gelang M nur schwer, seine Begriffe des Dämonischen, das aus dem Bösen des Menschen etwas Zwanghaftes mache, und des Terroristischen, das auf die Spuren von Taten hinweise, verständlich in eine politische Argumentation einzuführen. Er spürte, dass er mit dieser Essenz seines Berichts die klare Denkweise des Fraktionsvorsitzenden nicht erreichen würde.
Der kehrte überraschend in den anfänglichen Modus seiner Freundlichkeit zurück. Er betonte noch einmal, wie wertvoll dieser Bericht sei. Es solle Ausdruck einer besonderen persönlichen und politischen Beziehung zwischen ihm und M bleiben, dass diese Arbeit „strikt unter dem Deckel“ bleibt und die Brisanz behält, für die Probleme zu sensibilisieren, die in ihr aufgeworfen werden. „In diesem Sinne können Sie sicher sein“, meinte der Fraktionsvorsitzende, „dass Sie einen wichtigen Beitrag geleistet haben, dessen Kapital sich in der Zukunft erweisen wird. Sie haben ja recht, für das Böse sind technische Systeme eine riesige willkommene Herausforderung.“
M war sich in diesem Augenblick nicht sicher, ob ihm diese Bilanz schmeichelt oder ob sie eine freundliche Beerdigung seiner politischen Methode bedeutet. Seine Stimmung neigte dazu, die exklusive Nähe mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Feld der Sicherheitspolitik als größten Erfolg seiner bisherigen parlamentarischen Laufbahn zu verbuchen.
„Mein Freund“, bog nun der Fraktionsvorsitzende mit weicher Stimme und seinem alemannischen Akzent in die Schlussrunde ihres Gespräches ein, „ich möchte Ihren Bericht auf meine persönliche Liste der Merkposten setzen. Mit dieser Liste arbeite ich an meinem politischen Netz, in dem ich die Verbindungen setze, die uns zu beschäftigen haben. Aus diesem Netz entstehen für mich die vertraulichen Beziehungen mit Kollegen, die gleichsam die DNA meiner Politik sind. Sie dürfen sicher sein, dass ich diese Vertraulichkeit mit Ihnen nicht missbrauchen werde und erwarte das im Gegenzug auch von Ihnen.“ Der Fraktionsvorsitzende wusste sehr genau, dass er mit diesem Angebot mögliche Widersprüche von M bereits im Kern aufgelöst hatte. Er erhob sich, ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Mirabellenobstler und zwei kleine Gläser. Auch M erhob sich, als sein Freund mit den gefüllten Gläsern auf ihn zukam. „Trinken wir auf unsere Gesundheit und eine gute politische Zusammenarbeit.“
M bedankte sich für das Vertrauen, das er auch als natürliche Fortsetzung der Loyalität bewertet wissen wollte, die er stets seinem Fraktionsvorsitzenden gegenüber bewiesen habe. Sie setzten sich noch kurz, und der erfahrenere Politiker nutzte die Situation für eine kurze Bitte: „Bevor ich Ihren Bericht in meinem Ordner ablegen kann, möchte ich Ihnen dringend raten, zwei Begriffe aus Ihren Darlegungen zu streichen, die für mich eher kontraproduktiv sind. Sie sollten auf das Wort terroristisch verzichten. Das wollen wir uns für solche Attentate vorbehalten, von denen wir wissen oder annehmen können, mit welcher Absicht sie erfolgen. Und sie sollten den Begriff der Dämonie streichen. Dieses Wort taugt nicht für die Politik. Warum sollen wir die Geister beschwören? Das können wir nicht. Hinter der Dämonie steht etwas Pathologisches, und wir sollten dieses Feld den Psychologen überlassen. Mit diesen kleinen Streichungen erreichen wir eine analytische Geschlossenheit, mit der die mögliche Nähe einer so fürchterlichen Flugzeugkatastrophe zum Politischen viel deutlicher wird.“
M wusste in diesem Augenblick natürlich, dass sein Bericht in den wesentlichen Schlussfolgerungen entwertet ist, die ihm so wichtig erscheinen. „Das ist der Preis meiner Methode, mit der ich arbeite“, sagte er sich. Aber im Augenblick war ihm kein Preis zu hoch, um die Nähe zu diesem bedeutenden Mann im Parlament zu gewinnen. Der Alkohol lockerte seine Stimme, als er sagte: „Vielleicht habe ich das infolge meiner Arbeit an dem Bericht etwas anders gesehen als Sie. Aber ich werde die Streichungen vornehmen, weil mir daran gelegen sein muss, dass Sie etwas mit meiner Arbeit anfangen können. In einer Zusammenarbeit muss es darum gehen, einen gemeinsamen Nenner zu finden und den in Sprache umzusetzen. Das nennt man wohl auch Kompromiss.“
M war überzeugt, nach genau 45 Minuten aus einem Gespräch zu gehen, in dem er seine diplomatische Feuertaufe bestanden hatte. Er musste sich zugestehen, dass der alte Fuchs noch cleverer sein Ziel erreicht hatte, als es M vermocht hätte. Die „Pathologie des Dämonischen“ blieb einstweilen aus der praktischen Politik ausgeschlossen. Das hinderte ihn nicht, seinen Weg als Einzelgänger weiterzugehen, dieser Pathologie auf der Spur zu bleiben und ihre Relationen zu erkunden. Er sagte sich, die Zeit sei noch nicht reif für die Methode, mit