Der Vormittag im Büro war für sie besonders unbeschwert, weil sie keinen Arbeitsdruck verspürten. Die beiden Mitarbeiterinnen von M hatten nach seinem Abgang noch eine Zeit lang zusammen beim Kaffee gesessen. Das kam sehr selten vor. In der Regel lagen gerade in den Morgenstunden so viele Arbeiten an, dass jede auf ihre Weise in hektischer Routine den Berg an Aufgaben am eigenen Arbeitsplatz abzutragen versuchen musste. Die dazu notwendigen Abstimmungen zwischen den beiden Frauen verliefen meistens über Zuruf, blieben im Ton kühl und im Inhalt dienstlich. Sie verspürten keine ausgeprägte Zuneigung füreinander und hatten sich kleine Büronischen eingerichtet, von denen aus sie miteinander kommunizierten. Schatz empfand die jüngere Kollegin als ein wenig zu arrogant, und Madame störte an der älteren Kollegin, wie unpolitisch sie war und wie unterwürfig und wenig emanzipiert sie ihre Arbeit verrichtete. Über das private Leben der anderen wussten die beiden Kolleginnen fast gar nichts. Das störte Schatz mehr als Madame. Deswegen litt sie stärker unter der förmlich korrekten Dienstbeziehung als Madame. Aber es wäre falsch, die Arbeitsbeziehung der beiden Frauen als gegenseitige Belastung zu verstehen. Sie hatten keinen Grund, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es haben müsste, wenn sie sich irgendwelche Antipathien bekunden würden. Beide folgten der eigenen Erfahrung, die Arbeitszufriedenheit nicht zu belasten, indem man sie mit der unnötigen Frage konfrontiert, wie nahe man zu den Menschen steht, mit denen man im Bundestag auf engem Raum täglich zusammenkommt.
An diesem Vormittag einte sie aber ein langsam in Gang gekommenes Gespräch über ihren gemeinsamen Chef. Sie fanden Gefallen daran, ihre Eindrücke auszutauschen, die sie über M mit sich trugen. Schatz brachte das Eis als Erste zum Tauen, als sie nach einer Weile tastender Bemerkungen mit etwas unsicherem Unterton sagte: „Ich weiß gar nicht, ob ich das vortragen darf, aber ich fände es schön, wenn wir uns im Büro duzen würden.“ Madame hatte sie freundlich angelächelt und den Vorschlag mit „Sehr gerne“ quittiert, worauf Schatz eine weitere Tasse Kaffee eingeschenkt und ihre Schachtel Zigaretten auf den Tisch gelegt hatte. Beide rauchten, aber nicht im Büro, weil das von M nicht gerne gesehen wurde und auch von der Verwaltung dem Katalog der weichen Verbote zugordnet war.
Madame schaltete in einen anderen Modus, entspannte sich ein wenig und taute sichtlich auf in dem Vergnügen, über M zu tratschen und sich dabei ein wenig aus den Zwängen der politischen Korrektheit zu lösen, die sie im Grundsatz als unabdingbar für ihre Arbeit einschätzte. „Mit dieser Schnapsidee eines Untersuchungsausschusses hat sich M keinen Gefallen getan. Der rutscht damit auf dem Glatteis aus. M ist sicher ein fleißiger Abgeordneter und er behandelt uns besser als viele anderen. Aber er gehört nicht zu den Großen und Starken in der Politik. Er hat nicht die Anlagen für eine glanzvolle Karriere. Er ist, lass es mich mal vorsichtig so sagen, konservativ und versteht den Lauf der Zeit nicht. Es fällt mir zunehmend schwer, ihn politisch zu verstehen, um nachvollziehen zu können, was ihn antreibt.“
Schatz hatte sich genüsslich eine Zigarette angezündet und mit sanfter Stimme lächelnd geantwortet: „Ich finde ihn eigentlich ganz charmant. Er gehört für mich zu den Männern, mit denen ich zwar nicht zusammenleben möchte, in deren Umgebung ich mich aber als Angestellte wohlfühle, auch weil etwas Geheimnisvolles von ihm ausgeht.“
Die beiden variierten nun ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen. Madame hatte ihre Hände auf den Tisch gelegt, was sie immer machte, wenn sie ein Gespräch zu systematisieren versuchte. Schatz kannte diese Geste sehr genau und fühlte sich in ihrer Beobachtung bestätigt, als Madame sagte: „Zum ersten Mal reden wir über unseren Chef und merken, dass wir zwei ganz unterschiedliche Frauen sind, wenn wir über einen Mann sprechen, um den herum unsere gemeinsame Arbeit kreist. Pass auf, ich habe eine Idee, wir machen ein kleines Spiel.“
Schatz hob neugierig ihren Kopf. Spiel als Gesellschaftsspiel, das war ganz in ihrem Sinne. Einen guten Teil ihres privaten Lebens mit anderen Menschen verbrachte sie mit solchen Spielen. In ihrer Wohnung hatte sie sogar eine Kartenspielrunde gegründet, die jeden Monat einmal tagte. Sie fühlte sich stets wohl beim Spielen mit Menschen. Jetzt mit ihrer Kollegin zusammen im Büro kam ihr dieser Vorschlag wie eine Einladung vor, ein Stück ihres Privatlebens in diese ganz andere Welt des Hohen Hauses der Politik tragen zu dürfen. „Oh ja, sehr gerne“, reagierte sie voller Enthusiasmus und wartete auf die Spielanweisungen.
Madame holte zwei Bogen Papier, zündete sich nun ihrerseits eine Zigarette an und erklärte die Spielregel: „Du beginnst. Du sagst eine Eigenschaft, mit der du M charakterisierst. Die schreibst du auf. Ich überlege mir dazu ein passendes Eigenschaftswort, schreibe es auf mein Blatt Papier, ohne es dir zu sagen. In der zweiten Runde fange ich dann wie beschrieben an, nenne eine Eigenschaft und schreibe sie auf. So geht das hin und her, bis uns nichts mehr einfällt.“
Schatz gefiel das auf Anhieb. Die beiden saßen sich nahe gegenüber und das Spiel begann. „Charmant“, eröffnete Schatz den Reigen. Madame lächelte und notierte „oberflächlich“. Nun gab sie vor „impulsiv“, und Schatz schrieb auf ihr Papier „geht Risiken ein“. Schatz legte dann vor „Überzeugungskraft“ und Madame schrieb schnell „Hochstapler“. So ging es eine Zeit lang hin und her. Die Listen wurden mit weiteren Eigenschaftswörtern gefüllt.
Madame „manipuliert“ – Schatz: „einflussreich“
Schatz „selbstsicher“ – Madame „größenwahnsinnig“
Madame „erdichtet Zusammenhänge“ – Schatz „blickt in die Zukunft“
Schatz „trifft schwierige Entscheidungen“ – Madame „Gefühlsarm“
Madame „ereignisabhängig“ – Schatz: „handlungsorientiert“
Schatz „verantwortungsvoll“ – Madame „kaltherzig“
Madame „egozentrisch“ – Schatz „charismatisch“
Irgendwann waren ihre Blätter voll. Sie legten nun ihre Listen nebeneinander und waren erschrocken, wie weit die Deutungen auseinanderlagen. Sie zündeten sich neue Zigaretten an und versuchten zu verstehen, was für Eigenschaftsreihen sie zusammengestellt hatten. Klar wurde ihnen, dass jede von ihnen eine andere Seite seiner Persönlichkeit in den Vordergrund gerückt hatte. Aber es war ja nur ein Spiel. So lächelten sie über die zwei Seiten Papier an diesem Vormittag und waren wie gute Freundinnen zu Scherzen aufgelegt. Madame bilanzierte ihre Sichtweise: „Du malst ein Bild von einem stinknormalen Mann, der mächtig sein will und sich am liebsten so sieht, wie du ihn beschreibst.“
Schatz war über diese kritische Äußerung nicht böse. Sie lächelte, als sie antwortete: „Meine Güte, was haben wir da für einen Chef! Du malst ja das Bild eines richtigen Psychopathen.“
Sie schauten sich amüsiert in die Augen, und Madame nahm die Papiere, zerknüllte sie und warf sie mit einer gekonnten Bewegung treffsicher in den wenige Meter weit entfernten Papierkorb.
Der Vormittag war mit dem Einverständnis zu Ende gegangen, dass ein wenig Klatsch und Tratsch für das Arbeitsklima im Büro sicher förderlich sein würden. Madame setzte sich wieder an ihren Arbeitsplatz und widmete sich der randvoll gefüllten Schublade ihres Schreibtisches. Schatz räumte in Seelenruhe den Tisch und war sich sicher, künftig mit Madame besser klarzukommen, obgleich sie offensichtlich so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Gemeinsam gingen sie dann zum Mittagessen in die Kantine – auch das eine Premiere – und waren tief erschrocken, als sie von der Flugzeugkatastrophe hörten. Es wurde auch für sie ein finsterer Tag. „Das liegt nun wirklich nicht in unserer Hand“, sagte Schatz zu ihrer neuen Freundin. „Wer will das so genau wissen?“, entgegnete diese mit einer sehr weichen und freundlichen Stimme.
Reisen zu organisieren, gehört zu den Routineaufgaben in einem Büro für Abgeordnete im Bundestag. Das gilt auch für die Mitarbeiterinnen