Das Kind ohne Vater. Christa Burkhardt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christa Burkhardt
Издательство: Bookwire
Серия: Begegnungen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188850
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hatte ihn weitgehend unfallfrei durch seine Kindheit und seine Jugend gecoacht.

      Sein großer Bruder Jonathan hatte ihn auf alle Untiefen des Lebens vorbereitet. Dabei war er genau genommen sein Halbbruder. Denn ihr Vater war schon einmal verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe waren Jonathan und eine umfangreiche Scheidungsvereinbarung hervorgegangen. Danach hatte er seine Mutter getroffen. Diese Ehe hielt nun schon bald 20 Jahre.

      Natürlich hatte Patrick nie über die Ehe seiner Eltern nachgedacht, aber sie war durchaus ein Erfolgsmodell. Und das trotz des großen Altersunterschieds von zwölf Jahren. Deine Mutter hätte jeden haben können, Patrick, jeden, betonte sein Vater bei passenden und anderen Gelegenheiten, aber sie hat mich ausgesucht. Und dabei hatte er ein Leuchten in den Augen, das direkt aus seinem Herzen stammte. Kein Zweifel: Sein Vater liebte seine Mutter. Dass sie glücklich war, war ihm mindestens genauso wichtig wie der unternehmerische Erfolg.

      War es da ein Wunder, dass er seiner Frau einen besonders schönen Geburtstag zum 50. ausrichten wollte? Konnte er da Prüfungen vorschieben, um seine Abwesenheit zu rechtfertigen? Nein, natürlich konnte er das nicht. Er würde genau das tun, was sein Vater gesagt hatte: Er würde versuchen im Zug zu lernen. Und wenn ihm sein Vater einen Geldschein zusteckte, würde er ihn nehmen.

      Noch dreieinhalb Stunden. Draußen zog die Landschaft vorbei, ein Lehrbuch lag ausgebreitet vor ihm, drei weitere hatte er im Rucksack. Jetzt, am Ende des zweiten Semesters hatte er sich an das viele Lernen gewöhnt. Medizin war nun einmal kein Studium, das man nebenbei absolvieren konnte. Und er hatte sich sehr bewusst für dieses Fach entschieden.

      Als er seine Ausbildung abgebrochen hatte, hatte er ein paar Monate gejobbt. Als Aushilfe in einem Baumarkt, in einer Eisdiele, als Pizzafahrer. Über diese Umwege war er bei Essen auf Rädern gelandet und fand Gefallen an den Gesprächen mit seinen Kunden. Einige waren nett, einige waren verwirrt, viele waren beides. Und meistens waren sie allein.

      Das gab ihm damals sehr zu denken. Wie konnten Menschen, die ein ganzes Leben lang gelebt, geliebt, gearbeitet und ihre Kinder groß gezogen hatten auf einmal so allein sein? Als letzte Überlebende ihrer Generation in ihrem Bekanntenkreis. Als die, die ihr Zuhause nicht aufgeben wollten, obwohl Kinder und Enkelkinder längst in der größeren Stadt lebten. Als die, die es einfach nicht schafften, nach so viel Schaffen ihren Lebensabend zu genießen.

      So begann er ein Freiwilliges soziales Jahr in einem Alten- und Pflegeheim. Irgendetwas mit Menschen wollte er arbeiten. Genauer konnte er es noch nicht fassen. Das FSJ verschaffte ihm die nötige Zeit. Krankenpfleger wollte er werden, teilte er schließlich zu Hause mit. Seine Mutter nickte. Sein Vater zog die Stirn in Falten. Ressourcenverschwendung, sagte er. Wenn du Menschen wirklich helfen willst, dann studiere Medizin, wozu hast du Abitur gemacht?

      Das leuchtete ihm ein. Aus der Wundertüte des Zulassungsverfahrens zog er einen Studienplatz in Dresden und nahm ihn an. Aus seiner Zeit im Pflegeheim kannte er einen Arzt Mitte 50, Felix Breitenbach, und wann immer er mit der Medizin haderte, unsicher wurde, überfordert war, oder auch wenn er Liebes- und anderen Kummer hatte, rief er ihn an. Felix, sein väterlicher Freund. Wenn er ehrlich war, zog es ihn jetzt eher zu Felix als in sein Elternhaus.

      Aber es war nun einmal seine Mutter, die Geburtstag hatte. In wenigen Minuten erreichen wir Erfurt. Es geht voran. Gelernt hatte er noch gar nichts, und Geschenk hatte er auch keines. Aber darin waren Jonathan und sein Vater ohnehin besser als er. An ein gelungenes Geschenk konnte er sich nicht erinnern.

      Mit Schaudern dachte er an die gebastelten Herzen und verzierten Grußkarten zu Muttertag und Weihnachten, die ihn die Schule hatte produzieren lassen. Ich freue mich, wenn ich dich seh‘, ich finde dich so nett. Ich schenke dir mein H, mein E, mein R und auch mein Z, erinnerte er sich. Der Geburtstag der Mutter stand leider nicht im Bastellehrplan, also mangelte es ihm an Ideen.

      Blumen? Pralinen? Gutschein für eine Massage, fürs Kino, einen Thermenbesuch? Ein Buch? Eine DVD? Er kam sich so kreativ vor wie ein Handtuchhalter. Für Geschenke wie ein Wochenende in X oder Y fehlte ihm das Kleingeld und am Ende würde er noch mitkommen müssen. Nein, danke. Er war eher der Sofatiger. Kartoffelchips und Netflix. Ob man mit dieser Kombination bei einer 50-Jährigen punkten konnte? Wohl eher nicht.

      Also würde es sein wie immer. Er hatte kein Geschenk, und seine Mutter sah darüber hinweg. Wenn er ehrlich war, hatte er keine Ahnung, was sie sich wirklich wünschte. Von ihm? Von ihrem Mann? Vom Leben? Ob sie glücklich war? Er wusste es nicht.

      Der ICE hielt, und er stieg aus. Nun fehlte noch eine halbe Stunde Nahverkehr. Langsam schlenderte er auf Gleis 1. Ob er öfter „nach Hause“ kommen würde, wenn er einen Studienplatz in der Nähe bekommen hätte? Wahrscheinlich nicht. Sieben Stationen noch, ein kurzer Fußmarsch.

      Er musste für seine Prüfungen lernen, er musste mit Wibke, seiner Mitbewohnerin reden, er brauchte neue Bremsbeläge für sein Fahrrad, er musste Kai seinen Werkzeugkoffer zurückbringen. Bald waren Ferien. Er musste sich einen Job suchen, er musste ein paar Rechnungen bezahlen und er musste mal wieder raus.

      Sein Elternhaus kam mit jedem Schritt näher. Ein Vorort, Hecken, Gartenzäune, Vorgärten mit Blumen und Nadelbäumen. Der Bungalow war von der Straße aus kaum zu sehen, das Tor geschlossen, der bewohnte Teil des Gartens lag hinter dem Haus. Er hatte alles größer in Erinnerung. Er klingelte. Jonathan tauchte in der Tür auf und betätigte den Summer.

      „Tach, Herr Doktor“, begrüßte er ihn, „schön dich zu sehen.“ Die beiden umarmten sich herzlich. „Mama weiß nicht, was sie anziehen soll und Papa wurde in der Firma aufgehalten“, informierte er ihn über die Lage. „Also alles wie immer“, sagte Patrick, nahm zwei Stufen auf einmal und riss im ersten Stock die Tür zu seinem ehemaligen Zimmer auf. Es war, als hätte er eine Zeitmaschine bestiegen, denn mit einem einzigen Schritt war er wieder der Teenager, als der er das Haus vor wenigen Jahren verlassen hatte.

      „Tröste dich, mein Zimmer war mein Zimmer bis ich 25 war. Du hast also noch ein wenig Zeit“, sagte Jonathan, der ihm gefolgt war und ahnte, was er dachte. Er seufzte mit einem Blick auf verblichene Poster, vergessene Spielsachen, verdrängte und bewahrte Kindheitserinnerungen. Natürlich war sein Bett bezogen. Glücklicherweise weder mit den Schlümpfen noch mit Bayern München. Ob diese Bezüge noch im Schrank lagen?

      Wenn nicht, wem hatte Mutter die in die Wäschetruhe geschoben? „Ich glaube, ich nehme das, was meinst du?“, tönte es aus dem Elternschlafzimmer. Eine Tür wurde geöffnet. „Jonathan?“, hörte er seine Mutter. „Überraschung!“, hörte er sich rufen, dann stürzte er mit ausgebreiteten Armen auf die Frau, die ihn geboren hatte zu, hob sie ohne Schwierigkeiten hoch und wirbelte sie durch die Luft.

      „Patrick“, quietschte sie mehr als dass sie es sagte. Vorsorglich stellte er sie wieder auf ihre eigenen Füße. „Happy birthday, Mama“, grinste er und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Du Schuft hast mir kein Wort gesagt“, sagte seine Mutter in Richtung Jonathan. „Befehl von der Heeresleitung“, gab dieser ungerührt zurück. „Papa hat mir eben geschrieben, dass er gleich zum Restaurant kommt“, fügte er nach einem Blick auf sein Handy hinzu. Mit einem „Mylady, Sie sehen bezaubernd aus, darf ich bitten“, hielt er seiner Stiefmutter den Arm hin. Nebeneinander schritten sie betont feierlich die Treppe hinunter.

      „Kann ich so gehen? Gefällt dir mein Kleid? Patrick, du musst neben mir sitzen. Ach, ist das schön, dass meine beiden Jungs heute hier sind“, sprudelte das Geburtstagskind los. Jonathan und Patrick verzichteten auf Antworten, denn sie sah in jedem Aufzug umwerfend aus. Selbst wenn du eine Plastiktüte mit Logo von der Konkurrenz tragen würdest, würde dich der Filialleiter an der Supermarktkasse anstrahlen, Mama, lautete ein gern wiederholtes Kompliment innerhalb der Familie.

      Und es stimmte. Sabine Lenau geborene Fiedler war auch mit 50 noch eine attraktive Frau, die wesentlich jünger wirkte. Sie hatte sich als Fotografin mit ausgezeichnetem Auge einen Namen gemacht, wählte ihre Aufträge sorgfältig aus und sagte lieber nein als halbherzig ja. Leisten konnte sie es sich in jedem Fall, denn das Unternehmen Lenau stand hervorragend da. Wegen des Geldes hatte Sabine Lenau seit ihrer Hochzeit mit Jonathans Vater sicher nicht arbeiten müssen.

      Aber sie liebte ihren Beruf und unterstützte den Familienbetrieb