Das Feuer wärmt sie. Die Kälte löst sich aus ihren, vor Kälte, ganz starren Knochen. Love schlingt die Arme um die Beine, hockt da und schaut dem Spiel der Flammen zu. Dem Züngeln und den aufsteigenden rußschwarzen Papierstückchen. Sie wird bald anfangen müssen zu lesen. Sie hofft, es verhält sich wie schon so oft: Dass sie durch das Lesen Fertigkeiten erlangen wird. So als hätte ihr Gehirn einen direkten Zugang zu dem motorischen Gedächtnis ihrer Muskeln, Sehnen und Bänder. Bewegungsabläufe musste sie selten trainieren. Sobald sie verstanden hat, wie etwas funktioniert, konnte sie es einfach. Leider hat sie sich bisher nie für das Kämpfen interessiert. Fotografie, Mechanik, Hydraulik und Ähnliches waren ihre Leidenschaft. Nun soll es also asiatische Kampfkunst sein. Sie ist gespannt, hat aber gleichzeitig auch Zweifel und mit diesen sickert auch die Angst durch. Das Hämmern in ihrem Schädel wird wieder stärker und die Hand brennt. Sie braucht erst einmal ein bisschen Schlaf.
»Mein Name ist Tig«, stellt sich der junge Mann neben Love vor. Nachdem Love ein paar Stunden Schlaf nachgeholt hatte, sind sie gemeinsam zu der Leibgarde ihres Vaters zurückgekehrt. Der Schrottsammler hat sich nicht vom Fleck bewegt, was mit einem gebrochenen Rückgrat auch nicht anders zu erwarten gewesen war.
Gefasst hat Love festgestellt, dass seine Reise hier unten geendet hat.
»Hast du ihn gekannt?«
»Nein«, antwortet Love. Ihre Stimme ist emotionslos und es ist die Wahrheit. Sie hat ihn nicht gekannt. Niemand, mit dem man sich nicht eingehend unterhält, kennt man. Es war keine Zeit, um tiefer zu blicken, um den Menschen hinter der Uniform der Leibgarde zu sehen. Sie schließt seine Augen.
»Er gehörte zur Leibgarde des Masters.«
»Hat er dir das gesagt?«, fragt Love.
»Es ist die Uniform, die spricht.«
»Verstehe«, bestätigt Love knapp.
»Glaubst du, wir kommen hier lebend wieder raus?«
Love fragt sich, was der junge Mann eigentlich von ihr will.
»Hör zu! Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins. Ich brauche mehr Licht zum Lesen.«
»Dann stimmt es also?«
»Das ich lesen kann? Ja.«
»Ich kenne niemanden, der das kann.«
»Doch, jetzt schon«, bemerkt Love spitz und weiß nicht, ob sie genervt sein oder seine holprigen Versuche mit ihr eine Konversation zu führen, eigentlich ganz okay finden soll. Es lenkt sie zumindest ein bisschen von Lea und ihrem Vater ab.
»Ich weiß, wo es mehr Licht gibt«, ruft Tig plötzlich und Loves Augen hellen sich auf.
»Da oben«, erklärt er, während er sie in eine andere Sackgasse der Kanalisation führt. Für einen Moment hat Love an seiner Zuneigung zu ihr gezweifelt und ein falsches, dunkles Interesse hinter seinen Augen vermutet, doch sie hat sich getäuscht. Er will ihr tatsächlich nur helfen. Warum? Über eine Räuberleiter hilft er ihr, nach oben in ein Abflussrohr zu klettern. Sie reicht ihm ihre unverletzte Hand und zieht ihn hoch.
»Danke, wäre nicht nötig gewesen«, sagt er.
Kerle!?
Gebückt geht er voran und bleibt nach gefühlten zwanzig Metern stehen.
»Was ist?«
»Hier ist es.«
»Es ist genauso dunkel wie überall sonst«, stellt Love fest. Das Licht reicht gerade so aus, um Konturen und Wände zu erkennen. Das menschliche Auge kann sich gut an die Dunkelheit anpassen, vor allem, wenn man das ganze Leben kaum einen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen hat. Darum liebt sie die Dachterrasse im Haus ihres Vaters so sehr. Die seltenen Momente, wenn es die Sonne tatsächlich einmal schafft, den Dunst von 4-City mit einem einzigen Strahl, gleich einem Speer aus Licht, zu durchstoßen.
»Warte, bis es hell wird!«
»Willst du mich verarschen?«
»Bis es draußen hell wird«, ergänzt er und zeigt nach oben. Love schaut hoch und weiß jetzt, was er meint. Ein kreisrunder Kanalisationsdeckel mit kleinen Öffnungen, durch den tatsächlich schon ein bisschen trübes Licht sickert. Im nächsten Augenblick stemmt sie ihre Hände dagegen und versucht, ihn anzuheben.
»Vergiss es! Das habe ich auch schon versucht. Als sie uns hier reingesteckt haben, habe ich alles abgesucht. Jeden verdammten Kanalisationsdeckel haben die dicht gemacht. Jeder Tunnel endet an einem Stahlgitter oder einer Betonwand in einer Sackgasse. Die stecken uns hier nicht rein und lassen uns einfach so entkommen.«
»Wäre auch zu einfach gewesen«, seufzt Love.
Viele Stunden später hat Love das Buch über asiatische Kampfkunst zur Hälfte durchgelesen. Tig hat Wasser besorgt, während Love Seite um Seite verschlingt und das Wissen in sich aufsaugt.
»Woher hast du das Wasser?«
»Warum kannst du lesen?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
»Falsch! Du hast meine Frage seit Stunden nicht beantwortet.«
»Ich hab es mir selbst beigebracht. Zufrieden?«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Glaub, was du willst!«
Tig lässt den Kopf hängen.
»Das Wasser habe ich von denen. Die wollen, dass wir bei Kräften bleiben, um für die Arena eine gute Vorstellung abzuliefern.«
»Die waren hier?«
»Sie haben die anderen mitgenommen. Wir beide sind die Letzten, die übrig sind.«
»Ich dachte, ich hätte mehr Zeit.«
»Wofür? Um zu lesen? Vielleicht sollten wir besser beten.«
»Beten hilft nicht! Lesen schon.«
»Die anderen hatten recht. Du bist tatsächlich verrückt!« Fremde Stimmen unterbrechen plötzlich ihre Unterhaltung.
»Wo sind sie? Sie haben sich versteckt. Kommt raus!«
»Zeit zum Sterben«, murmelt Tig. Love schluckt. Sie hat das Buch gerade einmal zur Hälfte geschafft und damit ihr Talent funktioniert, muss sie darüber nachdenken, alles verstehen, es verinnerlichen und bestenfalls auch darüber schlafen. Erfahrungen sammeln und tägliches Training sind für Love ein Fremdwort. Als würde sie die allumfängliche Quelle des Wissens direkt über gelesene Worte anzapfen, sind Fingerfertigkeiten und Bewegungsabläufe einfach vorhanden. Von null auf hundert, als hätte sie die neu erworbenen Fähigkeiten schon von klein auf jeden Tag praktiziert. Doch nun hat sie dafür einfach nicht genügend Zeit. Die Schrottsammler, die dem Clan angehören, die ihren Vater und Lea umgebracht haben, kommen in den Abschnitt, in welchem sich Tig und sie befinden. Anscheinend kennen sie alle Abflussrohre, wo man sich verstecken oder verkriechen könnte. Auch die kleineren. Love atmet durch. Jetzt kommt es darauf an. Sie sendet doch noch schnell ein kleines Stoßgebet Richtung Himmel ab. Kann ja nicht schaden. Dann folgt sie Tig zum Anfang des Rohres.
Tig springt runter. Love blickt ihm nach und sieht drei Schrottsammler. Menschen. Fremde Gesichter. Sie führen nur Befehle aus, so wie es die Anhänger ihres Vaters getan hätten. Love fragt sich, was sie alles nicht mitbekommen hat. Hat ihr Vater auch Gefangene gemacht? Getötet? Eine Arena gab es nicht. Oder vielleicht doch? Hatte ihr Vater Geheimnisse vor ihr?
»Runter da!«
Love springt, wie ihr befohlen wurde. Womit die Schrottsammler nicht rechnen, ist ihre Attacke. Noch mitten im Sprung vollführt Love eine formvollendete Drehung. Die Beine schwungvoll zu einem Spagat gespreizt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist Love erstaunt darüber, zu was ihr Körper im Stande ist. Sie kann sich nicht erinnern, sich jemals so bewegt zu haben, geschweige denn, einen Spagat zu vollführen. Ihr Gehirn sendet eins zu eins die richtigen Signale an ihren Körper, um das umzusetzen, was sie eben noch gelesen hat. Sie kann sogar den Namen der Figur nennen, die sie gerade ausführt: