Fassungslos ließ Lene das Büchlein sinken. Wie gemein. Dass so etwas überhaupt passieren konnte. Die Menschen von damals waren anscheinend auch nicht besser als die von heute. Sie war überrascht, wie sehr sie das Gelesene aufbrachte. Eine Weile dachte sie noch darüber nach und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf. Sie war in einem dunklen Gang, einer Art Gewölbe und konnte kaum etwas sehen. Unheimlich war es hier. Fieberhaft suchte Lene im Traum ihre Taschenlampe. Am Handy hatte sie doch eine Taschenlampen-App, da müsste sie nur draufdrücken und schon wäre es hell. Aber sie konnte ihr Handy nicht finden und auch eine Taschenlampe war nicht in Sicht. Stattdessen sah sie jetzt einen schwachen Schein, als sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie folgte ihm vorsichtig und streckte dabei ihre Hände aus, damit sie nicht irgendwo anstieß. Eine Kurve - es wurde heller, noch ein Stück geradeaus - noch eine Kurve - und nun sah sie Tageslicht herein schimmern, hinter einem Vorhang aus Efeu. Erleichtert atmete sie auf. Doch nun hörte sie ein Geräusch, eine Art Surren, das beängstigender war als die Dunkelheit vorher und es wurde immer lauter. Sie wollte wieder in den Gang rennen, aber sie war wie gelähmt.
Ruckartig wachte sie auf. Was war das denn? Ihr Herz klopfte schnell und sie atmete schwer, als wäre sie wirklich gerannt. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und die Treppe hinunter in die Küche. Ein Glück, im Kühlschrank stand eine Fruchtschorle. Durstig trank sie ein paar Schlucke und nahm die Flasche mit hoch in ihr Zimmer. Sie stellte sie neben das Bett, legte sich hin und wollte nachdenken über den Traum, schlief jedoch sofort ein und wachte erst am Morgen vom Krähen der Hähne wieder auf.
Kapitel 3
Ausflug zum alten Ort
Morgens hatte Lene noch eine Weile in dem Büchlein gelesen, auch das, was ihre Vorfahren über die Jahre noch beigetragen hatten, aber nichts Weltbewegendes mehr entdeckt. Alte Urkunden wurden immer wieder erwähnt, teils verschollen, teils wiederaufgetaucht aber immer unbeglaubigt - undurchsichtige Besitzverhältnisse, Ungerechtigkeiten, nicht auffindbare Gräber und viel Unerklärliches. Anscheinend hatte sich mancher Vorfahre darin ausgetobt und war so seine Unzufriedenheit mit seinem >langweiligen< Leben, losgeworden. Wenn es ihnen gutgetan hat? Auf jeden Fall, genau das Richtige für mich, dachte Lene lächelnd. Sie erinnerte sich, dass sie bei einem ihrer Ausflüge mit Omas verstorbenen Hund, auf alte Grenzsteine gestoßen war. Diese führten den Berg hinauf, in Richtung Hausen hinter der Sonne, dem verschwundenen Dorf. Vielleicht lag da des Rätsels Lösung. Immerhin war in dem Büchlein immer wieder von dem niedergegangenen Ort Hausen die Rede. Irgendetwas wollte sie tun und so nahm sie sich vor, an diesem Tag noch loszugehen. Sie wollte zu diesen Steinen, um nachzusehen, ob vielleicht noch etwas Lesbares darauf stand und um sie zu fotografieren. Nach dem Frühstück mit Oma, der sie aufgeregt von ihrem Vorhaben erzählt hatte, packte sie einen kleinen Rucksack mit Broten und Wasser, Äpfeln und einer Tafel Schokolade, legte das Büchlein mit hinein und eine Regenjacke für alle Fälle. Der Himmel sah ziemlich düster aus. Man konnte nie wissen, ob man sie brauchte, wenn es so schwülwarm war.
Dann fuhr sie auf den Parkplatz am Buchberg und wanderte los - den Weg nach oben. Sie hielt sich links. Der Neustädter Hof – im Büchlein Nuwenstat genannt - lag in dieser Richtung und die Steine, die nach oben führten, waren auch dort in der Nähe gewesen, als sie sie damals entdeckt hatte. Ziemlich steil hoch war es gegangen. Angestrengt betrachtete sie den Boden, nach einem zugewachsenen Pfad Ausschau haltend, sah suchend in die Höhe, ob nicht Markierungssteine irgendwo zu sehen waren, doch nichts als Hecken, Brombeeren meist, Dornen und Brennnesseln. Halt! Da war doch etwas? Mit einem Ruck blieb sie stehen. Schnell ging sie ein paar Schritte zurück und sah nach oben. Tatsächlich! Einer der Steine war zwischen den Bäumen in einiger Höhe zu erkennen! Er war ziemlich mit Moos überwachsen und daher schwer zu sehen.
Sie trampelte die Brennnesseln etwas beiseite und machte ein Bild davon, dann arbeitete sich langsam nach oben. Immer wenn sie an einem Stein ankam, war der nächste bereits in Sichtweite. Mit der Zeit war sie außer Puste, aber sie hatte ja Zeit. Sie verschnaufte ein wenig und ging langsam weiter. Bei jedem Stein blieb sie stehen und versuchte die Inschrift zu entziffern - oben war ein H -war sie sich sicher – hm, unten ein N und die Zahl 1370 stand darauf. Aha – das könnte ein H für Hausen sein und ein N für Neustadt. Lene machte ein Foto mit ihrem Handy und stieg weiter nach oben. Als sie am höchsten Punkt angekommen war, wollte sie sich kurz ausruhen. Sie blieb stehen und sah ein Stück weiter vorn eine Lichtung. Der Platz in der Mitte sah ganz gut aus, vielleicht fand sich dort sogar ein Baumstumpf oder etwas Ähnliches, um sich darauf zu setzen. Ein schöner Platz und eine ganz besondere Atmosphäre, fand sie - und doch - sie schauderte. Trotz aller Schönheit spürte sie ein unerklärliches Unbehagen. Was war denn das da, am Boden? Sie scharrte mit ihrem Fuß ein paar uralte, morsche Bretter beiseite. Das sah ja komisch aus. Hier sollte ein altes Basaltbergwerk in der Nähe sein. Ob die Bretter wohl dazu gehört hatten?
Kapitel 4
Der Sturz
Aber das hier sah anders aus, nein, das war es ganz sicher nicht. Es sah eher aus, als hätte da jemand eine Falle gebaut. Oder, war es doch eine alte Basaltgrube? Ein Nebeneingang vielleicht? Sie bückte sich, von einem drängenden Gefühl getrieben und löste ein paar Flechten Efeu, die sich darum rankten. Ah, da war eine Latte lose. Vielleicht konnte sie darunter einen Blick hineinwerfen! Mit ganzer Kraft zerrte sie daran, bis sie spürte, dass sie sich löste. Noch einmal fest daran ziehen, dachte sie und tat es – die Latte löste sich und Lene flog mit ihr in der Hand, hintenüber auf ein weiteres,