Noch in der gleichen Stunde eröffnete Maria Hagemann ein Postschließfach auf ihren Namen und teilte Daniel die Daten mit. Seit jenem Tag fuhr sie jeden Dienstagmorgen mit ihrem Fahrrad zum Postamt, und nie wurde sie enttäuscht.
In freudiger Erwartung auf Neuigkeiten öffnete sie auch an diesem Morgen die Nachricht von ihrem Sohn. Dabei fiel ein weiterer Brief heraus, adressiert an ihren Ehemann. Verwundert legte Maria diesen zuerst einmal auf den Beistelltisch und widmete sich, denen für sie bestimmte Zeilen.
Sie erschrak.
Daniel schrieb, dass ihm der Bericht über die bevorstehende Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an seinen Vater in die Hände gespielt worden war; von wem wüsste er nicht.
Wie kann so etwas möglich sein??
Die doppelten Fragezeichen und der zusätzlich unterstrichene Satz führten Maria klar vor Augen, wie entsetzt ihr Sohn war.
Sollte sein Vater nicht selbst die Initiative ergreifen und dieser schändlichen Farce ein Ende bereiten, so teilte Daniel mit, würde er nicht mehr länger schweigen. Alle Welt würde erfahren, welch ein Mensch Heinz Hagemann wirklich ist.
Maria ließ die Blätter in ihren Schoß sinken.
Hatte sie schon wieder einen Fehler gemacht, indem sie Daniel verschwieg, dass diese Verleihung bevorstand? Sie wollte ihn doch nur schützen. Im gleichen Moment fragte sie sich, wer ihrem Sohn diesen Zeitungsartikel zugespielt haben könnte.
Alle seine Schulfreunde – insbesondere Oliver Krug – sein damals bester Freund, hatten den Kontakt schnell abgebrochen, ebenso dessen Eltern, nachdem Daniel verschwunden war,
Maria bemerkte diese misstrauische Distanz jeden Samstag, wenn sie zum Markt unterwegs war und die Krugs sowie auch andere Eltern ehemaliger Klassenkameraden ihr über den Weg liefen, oder eher aus dem Weg gingen.
Anfangs schmerzte es sehr, dass sie nicht ein tröstliches Wort von den Leuten, gerade von den Krugs, zu hören bekam. Andererseits konnte sie es ihnen nicht verübeln. Olivers Eltern machten Heinz Hagemann für den Absturz ihres Sohnes in die Kriminalität verantwortlich; was vielleicht auch teilweise stimmte.
Im Alter von 16 Jahren wurde Oliver in einem Musikgeschäft ertappt, als er einige Tonbandkassetten stehlen wollte. Richter Friedhelm Hanke, ein ehemaliger Unteroffizier, folgte wie fast immer, dem Antrag seines Staatsanwalts, Heinz Hagemann und verurteilte den Jungen zu einer 3-monatigen Jugendstrafe, aus der er traumatisiert zurückkam.
Über das, was damals in diesem Jugendgefängnis passiert war, schwieg Oliver eisern, wurde aber immer wieder straffällig und wegen Einbruch und Diebstahl festgenommen. Vor einigen Jahren sogar aufgrund der Vergewaltigung an einer jungen Frau.
Wohl wissend, dass es Ärger bedeutete, öffnete Maria nun auch den Brief, der an ihren Mann adressiert war.
Schon die Anrede: – An Herr Hagemann – nicht Heinz Hagemann oder gar Vater, verriet Daniels ungeheuren Groll.
Wenn du dachtest, ich wäre gänzlich aus deinem Leben verschwunden an jenem Tag vor genau 20 Jahren, muss ich dich enttäuschen, erneut! Ich lebe und es geht mir gut. Allerdings vermute ich, es interessiert dich nicht und es ist auch nicht der Grund weshalb ich dir, nach all der Zeit, schreibe.
Aber, stopp! Bevor du jetzt das Blatt aus lauter Wut zerreißt, solltest du doch lesen, was ich dir zu sagen habe, denn dein weiteres, so „hochanständiges“ Leben könnte davon abhängen.
Ich wurde davon unterrichtet, dass dir das Bundesverdienstkreuz verliehen werden soll, für besondere aufopferungsvolle ehrenamtliche Tätigkeit zum Wohle deiner Mitmenschen.
Ich dachte, es verschlägt mir die Sprache!
Wer kommt denn auf eine solche Idee, fragte ich mich. Doch dann erinnerte ich mich wieder daran, wie sehr du schon immer Leute beeinflussen konntest. Wie man sieht, hast du nichts verlernt, aber auch nichts dazugelernt.
Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm diese Auszeichnung nicht an, oder du wirst es bereuen!
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
PS. Du hast Nietzsche oft zitiert, dich aber nie an seinen Weisheiten orientiert.
Daniel.
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
Nachdem Maria Hagemann die Zeilen erneut gelesen hatte, ging sie nach unten in die Küche und legte den Brief auf den Tisch, neben den Frühstücksteller ihres Ehemanns.
Kurzfristig wunderte sie sich, dass er noch immer nicht aufgestanden war, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken darüber und öffnete die Terrassentür zum Garten.
Das Laub auf dem Rasen musste weg.
Mittwoch / 10:35 Uhr
Zu Mittag sollte es Schnüsch geben, nach dem Rezept von Helenes Großmutter. Ein Stück geräucherter Speck köchelte bereits in verlässlicher Harmonie mit Lauch und Möhren, in einem Gemisch von Milch und Wasser, in einem Topf. Jetzt schälte sie die Kartoffeln.
Eigentlich galt Schnüsch in Norddeutschland als ein sommerlicher Gemüseeintopf. Aber bei ihr kam das Gericht auch schon mal im Herbst oder sogar im Winter auf den Tisch, dann natürlich mit Gemüse aus dem Tiefkühlfach.
Nicole und Andy waren ebenfalls nie abgeneigt, einen ordentlichen Rest des Eintopfs abends auf der Terrasse vorzufinden; wussten sie doch, dass das Gemüse, jedenfalls im Sommer, aus Herberts Garten kam und deshalb aus rein biologischem Anbau.
Seit er letztes Jahr den beiden, für eine geringe Miete, sein Haus überlassen hatte, kümmerte sich Andy auch um den Gemüsegarten. Somit war für Herbert, gerade in den warmen Monaten, nicht gezwungen täglich mit der Gießkanne bewaffnet nach dem Rechten zu sehen.
Nicole hatte eher weniger mit der Gartenarbeit am Hut. Sie genoss lieber bei einem Glas Rotwein die Sonne auf der Terrasse oder lag im angrenzenden Zengarten.
Sie nannte es: Mit Genuss die innere Mitte finden und war damit ganz bei Herbert, der den Garten vor einigen Jahren, nachdem er von seiner Weltreise zurückgekehrt war, angelegt hatte. Die kleine Oase der Ruhe diente außerdem zu Übungsstunden in Thai Chi oder Yoga, unter seiner fachkundigen Leitung.
Auch Elfi, die Tochter von Josef Richter, nahm oft daran teil. Nicht zuletzt deshalb, weil sie Kraft tanken musste und eine Auszeit brauchte von ihrem betagten, zwar noch rüstigen, aber manchmal anstrengendem Vater, den alle nur Sepp nannten.
Während Helene die Kartoffeln in den Topf legte, gingen ihre Gedanken auf Reisen.
Vor zwei Jahren hätte sie nicht geahnt, dass ihr Leben noch einmal derart ereignisreich und glücklich werden könnte.
Nach dem Tod ihres Ehemanns, eines Polizeibeamten, vor jetzt mehr als 10 Jahren, fühlte sie sich in ihrem Haus ein wenig einsam und beschloss, die oberen Räume zu vermieten. Allerdings wollte sie eine Mieterin, mit der sie sich auch privat verstehen würde, und dachte dabei eher an eine Dame in ihrer Altersgruppe. Doch kaum, dass sie eine Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte, meldete sich eine junge Frau, etwa um die 30 Jahre, die ihr sofort sympathisch gewesen war. Als sich dann noch herausstellte, dass es sich um eine Kriminalbeamtin handelte, gab es für Helene keine Zweifel mehr. Sie erfasste es als einen Wink des Schicksals oder sogar wie ein Zeichen von Friedel selbst, der, davon war sie felsenfest überzeugt, wo immer er auch war, auf sie aufpasste.
In den folgenden Jahren entwickelte sich zwischen den beiden Frauen eine innige Verbundenheit – ähnlich einer Mutter-Tochter-Beziehung. Hinzu kam, dass Helene leidenschaftlich gerne Krimis las, und schaute und für sich selbst versuchte, den Täter zu ermitteln.
Freilich sollte Nicole Wegener, von Amts wegen, nicht über ihre