Von Menschen
Copyright © 2018 Iris Antonia Kogler
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Lektorat: Sabine Rahn
Umschlagbild: Christine Bietz / Iris Antonia Kogler
Iris Antonia Kogler
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Für R.
Kastanien
1.
Als der Alte noch mehr Worte hatte, strichen sie die Bank in einem dunklen Ton und stellten sie vor das Haus. „Die ist noch von damals“, hatte der Alte gesagt, sich darauf gesetzt, seinen Gehstock angelehnt und seine letzte Zeit begonnen. Zwei Jahre später splitterte das Rot ab und fiel in kleinen Farbblättern herunter, so wie nach und nach auch die Klarheit aus dem Gesicht des Alten fiel. Immer wieder in kleinen Stückchen, vor allem aus den Augen. Sie sahen es nie sofort, aber irgendwann fiel ihnen auf, dass wieder eine Stelle poröser, glanzloser oder leer geworden war. Noch einmal wollte seine Enkelin Kate die Bank nicht streichen, denn sie fand, das wäre unwürdig.
Sie hat die alten Fotos auf die Bank neben ihn gelegt, weil sie seinen Schrank ausgeräumt hat. Im Erdgeschoss wird es leichter sein mit ihm, aber er wird bleiben, hier auf diesem Hof, wo er hingehört.
Die Kleine rennt herum und sammelt Kastanien wie das Sterntalermädchen, so dass ihr Kleid dreckig wird. Sie findet eine besonders große, ihre Konzentration verändert sich und die gesammelten Früchte fallen auf den Boden zurück. „Upa soll die aufmachen“, sagt sie und rollt die Kastanie auf dem Knie des Alten herum. Sie nennt ihn Upa, weil das Wort „Ur-Opa“ zu lang ist. Sie schaut in sein Gesicht hinauf und hält ihm die Kastanie vor die Augen.
Andrea kommt und setzt sich neben ihren Vater auf die Bank. „Was hast du da Schönes?“, will sie von der Kleinen wissen. „Die können wir essen.“
„Aufmachen“, wiederholt die Kleine und legt dem Alten die Kastanie in die Hand. Andrea schaut die Fotos durch. „Schau mal, da ist Mama.“
Einfach nur, um das Bild zu vervollständigen, setzt sich Kate mit auf die Bank. Vier Generationen vor dem Wohnhaus des alten Hofes. Manchmal denkt Kate darüber nach, was der Alte in seinen Erinnerungen sieht, wenn er über den Hof blickt. Er hatte ihn damals übernommen und mit dem Wiederaufbau angefangen, gleich in der Zeit danach. Drei Kühe und ein Schwein zur Versorgung, ein paar Hühner noch dazu. Dort, wo heute das Restaurant ist, hatte er eine Werkstatt aufgemacht und reparierte alles, was man ihm brachte. Früher gab es einen riesigen, schwarzen Hund auf dem Hof. Der war schon da gewesen, war von irgendwoher gekommen und der Alte hatte ihn gelassen, obwohl es ein Monster war. „Bissig bis aufs Blut“, erzählte ihr mal ein alter Freund des Großvaters aus dem Dorf. „Da konntest du nicht ran.“ Es gibt ein Foto von ihm, das Andrea dem Alten jetzt zeigt. Vor dem Hauseingang liegend, ruhig, aber zu allem bereit, mit einer kleinen Kinderrassel zwischen den Zähnen. Ein seltsames Bild. Was immer der Alte an dem Hund fand, er behielt ihn und begrub ihn am Ende auf der Wiese hinter der Kastanie.
2.
Er geht den Feldweg entlang, direkt neben dem kleinen Bach. Die Landstraße will er meiden, denn er will niemandem begegnen, der in die entgegengesetzte Richtung läuft. Er kann sie sehen, wie sie mit Ihren Koffern und Bündeln unterwegs sind, zu Fuß, mit Handkarren, einem Pferd oder auch mit dem Fahrrad. Aber dennoch kann er nicht vermeiden, auch auf diesem abgelegenen Feldweg Menschen zu begegnen. Eines Abends ist es eine sechsköpfige Familie, die sich am Waldrand ausruht. Der verwundete Mann grüßt ihn, und als er aufsteht, tut er sich schwer.
„Es wird bestimmt besser mit der Zeit“, sagt er zu dem Verwundeten und nickt in Richtung Bein. „Nein, mich hat es schon vor zwei Jahren erwischt, da wird nichts mehr besser“, antwortet der und sieht das Gewehr, an dem zwei Eichhörnchen hängen. Noch ein Grund, warum er niemandem begegnen will. Er kann nicht hartherzig sein. Er gibt die Eichhörnchen der Familie und schlägt sich in den Wald. Es dauert, aber nach einiger Zeit schießt er einen Fasan und auf dem Rückweg noch ein weiteres Eichhörnchen. Es ist nicht viel, aber immerhin kommt er mit einer Beute zurück. Die Kinder werfen die Federn des Fasans in die Luft und tanzen. Später sind alle still und essen jedes noch so winzige Stückchen, während der Schein des kleinen Feuers sie wärmt in dieser kühlen Nacht im August. Die Mutter legt die Knochengerippe und Sehnen in einen Topf.
„Das zweite Mal jetzt schon“, sagt der Verwundete. „Wieder alles zurücklassen. Beim letzten Mal gab es Busse, jetzt gehen wir ein Stück zu Fuß, weil es zu wenig davon gibt. Die kommen nicht bis in unser Dorf. Wollen Sie wirklich in die Rote Zone?“, fragt er und fügt noch hinzu: „In der Stadt ist es sicherer als hier, Sie können mit uns kommen, meine Schwester hat sicher Platz für einen Soldaten.“
Am nächsten Morgen verlässt er die Familie, steckt aber den Zettel mit der Adresse in der Stadt ein und nimmt auch etwas von der dünnen Brühe mit. Das Dorf ist augenscheinlich leer, doch er wartet oben auf dem Hügel und beobachtet. Als es dunkel wird, geht er hinab, leise, wie er es als Soldat gelernt hat. Er hört die Grillen zirpen und einen Hund. Dann entdeckt er vereinzelt stille Lichter hinter den Fenstern. Er ist nicht alleine, das Dorf ist nicht ganz verlassen. Er geht die Straße entlang zum Hof, eine Katze läuft ihm über den Weg, und er bleibt ruhig stehen, als er aus der Dunkelheit seinen Namen hört. „Martin?“ Aus der Nacht tritt ein Mann. „Martin?“
Es ist selbstgebrannt und es ist schlecht, aber es ist das Beste, was er seit langem getrunken hat. Sie sitzen da, bei Kerzenschein, und er erfährt, dass sein Bruder gefallen ist. Also ist er nun allein. Er will wissen, wie viele im Dorf geblieben sind und was mit dem Hof ist. Dieses Mal hatten sich viele Bewohner geweigert, die Rote Zone erneut zu verlassen und sind geblieben. Also wird auch er bleiben. Es ist Heimat.
3.
Kate