Noch immer war es die liebste Vorstellung Caspars, einst heimkehren zu dürfen; »erst lernen, dann heim,« sagte er mit dem Ausdruck unbesiegbarer Entschiedenheit. »Aber du bist ja zu Hause, hier bei uns bist du zu Hause,« wandte Daumer ein. Aber Caspar schüttelte den Kopf.
Bisweilen stand er am Zaun und sah in den Nachbargarten hinüber, wo Kinder spielten, deren Wesen er mit komischem Befremden studierte. »So kleine Menschen,« sagte er zu Daumer, der ihn einmal dabei überraschte, »so kleine Menschen.« Seine Stimme klang traurig und höchst verwundert.
Daumer unterdrückte ein Lächeln und während sie zusammen ins Haus gingen, suchte er ihm klarzumachen, daß jeder Mensch einmal so klein gewesen, auch Caspar selbst. Caspar wollte das durchaus nicht zugeben. »O nein, o nein,« rief er aus, »Caspar nicht, Caspar immer so gewesen wie jetzt, Caspar nie so kurze Arme und Beine gehabt, o nein!«
Dennoch sei dem so, versicherte Daumer; nicht allein, daß er klein gewesen, sondern er wachse ja noch täglich, verändere sich täglich, sei heute ein ganz andrer als der Hauser auf dem Turm, und nach vielen Jahren werde er alt werden, seine Haare würden weiß sein, die Haut voller Runzeln.
Da wurde Caspar blaß vor Furcht; er fing an zu schluchzen und stotterte, das sei nicht möglich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, daß es nicht geschehe.
Daumer flüsterte seiner Schwester etwas zu, diese ging in den Garten und brachte nach kurzer Weile eine Rosenknospe, eine aufgeblühte und eine verwelkte Rose mit herauf. Caspar streckte die Hand nach der vollblühenden aus, wandte sich aber gleich mit Ekel ab, denn so sehr er die rote Farbe vor allen andern liebte, der heftige Geruch der Blume war ihm unangenehm. Als ihm Daumer den Unterschied der Lebensalter an Knospe und Blüte erklären wollte, sagte Caspar: »Das hast du doch selbst gemacht, es ist ja tot, es hat keine Augen und keine Beine.«
»Ich hab’ es nicht gemacht,« entgegnete Daumer, »es ist lebendig, es ist gewachsen; alles Lebendige ist gewachsen.«
»Alles Lebendige gewachsen,« wiederholte Caspar fast atemlos, indem er nach jedem Wort pausierte. Hier drohte Verwirrung. Auch die Bäume im Garten seien lebendig, sagte man ihm, und er getraute sich nicht, den Bäumen zu nahen, das Rauschen ihrer Kronen machte ihn bestürzt. Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die vielen Blätter ausgeschnitten habe und warum? warum so viele? Auch sie seien gewachsen, wurde geantwortet.
Aber mitten auf dem Rasen stand eine alte Sandsteinstatue, die sollte tot sein, trotzdem sie aussah wie ein Mensch. Caspar konnte stundenlang die Blicke nicht davon wenden, Verwunderung machte ihn stumm. »Warum hat es denn ein Gesicht?« fragte er endlich, »warum ist es so weiß und so schmutzig? Warum steht es immer und wird nicht müde?«
Als seine Furcht besiegt war, ging er heran und wagte die Figur zu betasten, denn ohne zu tasten, glaubte er nicht dem, was er sah. Er hatte den heftigen Wunsch, das Ding auseinander nehmen zu dürfen, um zu wissen, was innen war. Wie viel war überall innen, wie viel steckte überall dahinter!
Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein Stück des abschüssigen Weges entlang. Daumer hob ihn auf, und Caspar fragte, ob der Apfel müde sei, weil er so schnell gelaufen. Mit Grauen wandte er sich ab, als Daumer ein Messer nahm und die Frucht entzweischnitt. Da ward ein Wurm sichtbar und krümmte seinen dünnen Leib gegen das Licht.
»Er war bis jetzt im Finstern gefangen wie du im Kerker,« sagte Daumer.
Das Wort machte Caspar nachdenklich; es machte ihn nachdenklich und mißtrauisch. Wie vieles war da im Kerker, wovon er nicht wußte! Alles Innen war ein Kerker. Und in wunderlicher Verworrenheit knüpfte sich an diesen Gedanken die Erinnerung an den Schlag, den er damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt, wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In allen fremden Dingen lauerte der Schlag, in allen unbekannten wohnte Gefahr. Eine gewisse strahlende Heiterkeit, die allmählich Caspars Wesen entströmte und die das Entzücken seiner Umgebung bildete, war daher stets an jene erwartungsvolle, ahnungsvolle Bangigkeit gebunden.
Nach regnerischen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend, gewahrte Caspar einen Regenbogen am Himmel. Er war starr vor Freude. Wer das gemacht habe, stammelte er endlich. Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne sei doch kein Mensch. Die natürlichen Erklärungen ließen Daumer im Stich, er mußte sich auf Gott berufen. »Gott ist der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur,« sagte er.
Caspar schwieg. Der Name Gottes klang ihm seltsam düster. Das Bild, das er dazu suchte, glich dem Du, sah aus wie der Du, als die Decke des Gefängnisses auf seinen Schultern ruhte, war unheimlich verborgen wie der Du, als er den Schlag geführt, weil Caspar zu laut gesprochen.
Wie geheimnisvoll war alles, was zwischen Morgen und Abend geschah! Das Regen und Raunen der Welt, das Fließen des Wassers im Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenstände hoch in der Luft, die man Wolken nannte, das Vorübergehen und Nichtwiederkommen undeutbarer Ereignisse, und vor allem das Flüchten der Menschen, ihre schmerzlichen Gebärden, ihr lautes Reden, ihr sonderbares Gelächter. Wie viel war da zu erfahren und zu lernen!
Es schnürte Daumer das Herz zusammen, wenn er den Jüngling in tiefem Nachdenken sah. Caspar schien dann wie erfroren, er hockte zusammengekauert da, seine Hände waren geballt und er hörte und spürte nicht mehr, was um ihn vorging.
Ja, es war zu solchen Zeiten eine vollständige Dunkelheit um Caspar, und nur, wenn er lange genug versunken war, hüpfte aus der Tiefe etwas wie ein Feuerfunken, und in der Brust begann eine undeutlich murmelnde Stimme zu sprechen. Wenn der Funken wieder verlosch, tat sich die äußere Welt wieder kund, aber eine schwermütige Unzufriedenheit hatte sich Caspars bemächtigt.
»Wir müssen einmal mit ihm hinaus aufs Land,« sagte Anna Daumer eines Tages, als der Bruder mit ihr darüber gesprochen. »Er braucht Zerstreuung.«
»Er braucht Zerstreuung,« gab Daumer lächelnd zu, »er ist zu gesammelt, das ganze Weltall lastet noch auf seinem Gemüt.«
»Da es sein erster Spaziergang sein wird, wäre es gut, die Sache möglichst still zu unternehmen, sonst sind wieder alle Neugierigen bei der Hand,« meinte die alte Frau Daumer. »Sie schwatzen ohnehin genug über ihn und über uns.«
Daumer nickte. Er wünschte nur, daß Herr von Tucher mit von der Partie sei.
Am ersten Feiertag im September fand der Ausflug statt. Es war schon fünf Uhr nachmittags, als sie vom Haus aufbrachen, und da sie auf Caspars langsame Gangart Rücksicht nehmen mußten, gelangten sie erst spät ins Freie. Die begegnenden Leute blieben stehen, um der Gesellschaft nachzuschauen, und oft hörte man die staunenden oder spöttischen Worte: »Das ist ja der Caspar Hauser! Ei, der Findling! Wie fein er’s treibt, wie nobel!« Denn Caspar trug ein neues blaues Fräcklein, ein modisches Gilet, seine Beine staken in weißseidenen Strümpfen und die Schuhe hatten silberne Schnallen.
Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte sorgsam acht auf den Weg, der nicht mehr wie ehedem vor seinen Blicken auf- und abwärts schwankte. Die Männer schritten in gemessener Entfernung hinterdrein. Plötzlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf blieb Caspar stehen und sah sich fragend um.
Erfreut und in liebevollem Ton rief ihm Daumer zu, weiterzugehen. Nach ein paar hundert Schritten hob er wieder den Arm, und abermals blieb Caspar stehen und blickte sich um.
»Was ist das? Was bedeutet das?« fragte Herr von Tucher erstaunt.
»Darüber gibt es keine Erklärung,« antwortete Daumer voll stillen Triumphes. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen.«
»Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele sein,« meinte Herr von Tucher ein bißchen ironisch.
»Hexerei? Nein. Aber wie sagt Hamlet: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde –«
»Also sind Sie schon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt?«