Halten wir also in diesem Moment fest:
1. Ich sitze.
2. Dieser Sessel ist auf eine geniale Weise bequem und total beschissen zugleich.
3. Ich habe einen mittleren Nervenschaden am Kopf, der mich taub und unkonzentriert macht.
4. Meine Baumeisterin hat mich entsorgt.
5. Das ganze versprochene Gebäude gleich mit.
6. Holzklotz reimt sich nicht auf Bitterorange.
7. Nein.
8. Punkt 7 bedarf einer genaueren Untersuchung.
9. Ich muss jetzt irgendetwas tun, um wieder einen freieren Kopf zu bekommen.
10. Listen mit mehr als zehn Punkten sollte man keine Bedeutung beimessen.
11. Was zur Hölle mache ich jetzt?
Seit dem mythenumrankten Jahr 2010 habe ich einen Gedanken. Damals, als das Gras noch grün war und Schlumpf-Eis wirklich noch nach echten, handgejagten Schlümpfen schmeckte, prägte mich ein ganz besonderes Erlebnis. Wir unternahmen eine Reise. Wir waren zu dritt, mein Opa, mein Onkel und ich. Eine Reise durch Südfrankreich und Nordspanien mit dem sehr speziell ausgerichteten Reiseveranstalter Rotel-Tours.
Auf den Spuren des Jakobsweges nannte es sich. Im Nachhinein würde ich es gerne etwas anders taufen:
Unterwegs in einem rollenden Hühnerkäfig namens ‚Rotel-Tours-Bus‘, in dem jegliche Privatsphäre schlicht nicht vorhanden ist, du allerdings sehr viel siehst, während du nachts von den urwaldartigen Geräuschen der zwei schwäbischen Lesben, die in den Kabinen über dir schlafen, unterhalten wirst, die dir wahlweise ein Lächeln oder die blanke Wut ins Gesicht zaubern, du dich danach frisch ‚gestärkt‘ in einen neuen Tag voller Sightseeing begibst und halt so allgemein, na ja….auf den Spuren des Jakobsweges halt.
Guter Titel der Reise. Macht sich aber nur bedingt gut in einem Reisekatalog. Wohl eher gar nicht.
Ich fand es genial. Ich habe Fernweh. Immer gehabt. Ich will alles sehen, alles erleben. Ich möchte am liebsten überall hin. In jedes Land, zu jedem Ort. Muss wohl ein Erbfehler sein. Herzlichen Dank, Familie. Es war jedenfalls ein bis dato einmaliges Erlebnis. Nicht falsch verstehen, es war bei weitem nicht die erste große Reise meines Lebens, im Gegenteil. Ohne jetzt angeben zu wollen, möchte ich einfach mal von mir behaupten, ich kenne mich in der Welt schon ganz gut aus. Aber diese Reise, diese Tour mit diesem Veranstalter, die Art und Weise des Trips, das war eine ganz andere Hausnummer als alles zuvor Erlebte. 20 Tage mit anfänglich wildfremden Menschen auf engstem Raum unterwegs zu sein, in relativ kurzer Zeit extrem viele Orte zu besuchen, gemeinsam Essen zuzubereiten, zu verspeisen und wieder hinaus zu befördern, eine Gegend nicht nur zu sehen, sondern einfach zu erleben, unbeschreiblich. Keine meiner anderen Reisen kommt diesem Erlebnis nahe. Entschuldigung mein verehrtes Rom. Ich liebe dich trotzdem noch.
Diese Tour hatte einige der schönsten und merkwürdigsten Begebenheiten und einige der besten menschlichen Begegnungen meines bisherigen Lebens inklusive. Danke an den Rotel-Gott, falls es ihn gibt. Die Route der fahrenden Schlafkabinen führte entlang der Strecke des französischen Jakobsweges, über Toulouse und Lourdes und natürlich entlang des eigentlichen Jakobsweges, des Camino Francés, durch Spanien. Zu allen wichtigen Orten, die in Zusammenhang mit diesem altehrwürdigen Weg stehen. Selbstverständlich gehörten zum Reiseprogramm auch einige Etappen des Camino. Jeweils nur ein paar putzige, kleine Kilometerchen. Man bekam zumindest einen klitzekleinen Eindruck des Pilgerns und der verschiedenen Landschaften entlang der hunderte Kilometer langen Strecke. So kurz und knapp die jeweiligen Etappen waren, ich lief meistens allein, ganz für mich. Es war der Wahnsinn.
Die Menschen, die auf diesem Weg unterwegs waren. Die Geschichten, die ich nur auf diesen wenigen Ausschnitten des jahrhundertealten Weges gesehen und gehört habe. Unfassbar. Man kann es nicht alles in Worten zusammenfassen. Ein Pilger, der seinen Rucksack nicht trug, sondern in einem Bollerwagen, hinten an seinem Gürtel befestigt, hinter sich herzog. Zwei junge Typen, die sich als Thüringer aus Suhl entpuppten, die einfach mal Bock darauf hatten. Mal sehen was hier so passiert. Ein Mann, der absolut nichts bei sich hatte, außer einem Wanderstock und den zerlumpten Klamotten am Leib. Ein zerfressener Kartoffelsack war gegen ihn ein luxuriöses Gut. Von Prada. Marktlücke.
Was bewegt einen Menschen dazu, sein normales Leben für viele Wochen zurückzulassen und je nach genauem Ausgangs- und Bestimmungsort circa 800 Kilometer in großer Entbehrung durch Spanien zu laufen? Zum vermeintlichen Grab eines Apostels Jesu? Oder danach weiter bis nach Finisterre, ans Meer, bis ans Ende der Welt? Wer macht sowas? Warum macht man sowas? Sind die alle einfach irre?
Oder sind es gerade diese Menschen nicht?
Ich habe mich damals sofort in den Gedanken verliebt, diesen Weg auch zu gehen. Einfach den Weg zu gehen. So interessant auf vielerlei Weise. Landschaftlich, kulturell, geschichtlich, menschlich. Einfach den Weg und die Umgebung aufsaugen. Dass der Weg auch mich gehen muss, das war mir noch nicht klar. So vergingen weitere Jahre. Der Gedanke verging nie. „Ein Gedanke ist wie ein resistentes Bakterium.“ Verdammte Filmzitate. Dieser resistente, standhafte Gedanke. Immer begleitet von den üblichen Ängsten eines zumindest halbwegs normal denkenden Menschen. Ich kann doch nicht einfach wochenlang weg sein. Ich kann doch nicht einfach wochenlang alle Verpflichtungen bei Seite schieben. Ich kann mir das doch finanziell gar nicht leisten. Schwachsinn.
Verrückterweise kam irgendwann das Jahr 2014. Das Gras war nicht mehr so grün wie einst, Schlümpfe für Schlumpf-Eis wurden nicht mehr professionell, sondern nur noch von der ukrainischen Schlumpf-Mafia geschreddert und Gurken durften nur noch einen bestimmten Neigungsgrad aufweisen, um als Gurken zu gelten. Welch abgefahrene Zeit. In diesem Jahr, am 25. August, begab sich mein Opa mit seinem alten Studienfreund Manfred auf den Jakobsweg. Denn auch Opa hatte sich auf unserer Reise in den Gedanken Camino verliebt. Insgeheim war ich neidisch. So richtig neidisch. Ich färbte mich gelb.
Ich befand mich zu dieser Zeit in der Endphase eines letztendlich sinnlosen Studiums. Ich wollte es und ich habe es versucht. Danke europäisches Bachelor-System. Du hast alles richtig gemacht. Prima. Drecksack. Es hat nicht sollen sein. Nur wusste ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ganz. Vielleicht wollte ich es auch einfach noch nicht wahrhaben. Der Anblick der beiden glücklichen Pilger am Ende ihrer Reise, bei der Abholung am Bahnhof, brachte diesen kleinen, versteckten, aber unausweichlich existierenden Gedanken wieder ans Tageslicht. Na du Saftnase, wärste mal lieber mitgegangen, wa? Danke Hirn. Ich habe dich auch lieb.
Opa schrieb einen Reisebericht. Ich konnte ihn bis heute nicht lesen. Ich brachte es nicht übers Herz. Ich konnte mich wahrscheinlich mit dem Gedanken nicht anfreunden, nicht auch den Weg gegangen zu sein. Irgendwie ging es einfach nicht.
Dann wurde ich krank. An Weihnachten 2014 war ich plötzlich komplett ausgeschaltet. Mein ganz persönlicher „Nightmare before Christmas“. Bis heute weiß ich nicht genau, was zum Teufel da los war. Aufgewacht, Füße rot und geschwollen, kurz: Ich konnte nicht mehr laufen. Aber nicht nur die Füße, sondern beide Beine waren tot. Gefühlt. Wundrose nannte man es. Penicillin und Krücken waren die Kur. Aber durch was war es bedingt? Ich durchlief alle Tests, die man überhaupt an einem Menschen durchführen kann. Lag auch einige Tage im Krankenhaus.
Alles wurde untersucht. Kleines Blutbild. Großes Blutbild. Urin- und andere lustige Proben. Röntgen. Alles vom schütteren Haupthaar bis zur Hornhaut an der Ferse. CT. MRT. ARD. ZDF. Sonographie. Wenigstens Schwangerschaft war ausgeschlossen. Alles in allem kam bei den Tests heraus: Mir ging es total prima. Aber ich konnte halt nicht laufen, weil beide Beine geschwollen waren und schmerzten. Lief bei mir. Oder eben nicht.
Nach