Wahrlich, mein Bruder, erkanntest du erst eines Volkes Noth und Land und Himmel und Nachbar: so erräthst du wohl das Gesetz seiner Überwindungen und warum es auf dieser Leiter zu seiner Hoffnung steigt.
“Immer sollst du der Erste sein und den Andern vorragen: Niemanden soll deine eifersüchtige Seele lieben, es sei denn den Freund” - diess machte einem Griechen die Seele zittern: dabei gieng er seinen Pfad der Grösse.
“Wahrheit reden und gut mit Bogen und Pfeil verkehren” - so dünkte es jenem Volke zugleich lieb und schwer, aus dem mein Name kommt - der Name, welcher mir zugleich lieb und schwer ist.
“Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein ihnen zu Willen sein”: diese Tafel der Überwindung hängte ein andres Volk über sich auf und wurde mächtig und ewig damit.
“Treue üben und um der Treue Willen Ehre und Blut auch an böse und fährliche Sachen setzen”: also sich lehrend bezwang sich ein anderes Volk, und also sich bezwingend wurde es schwanger und schwer von grossen Hoffnungen.
Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses. Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es ihnen als Stimme vom Himmel.
Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, - er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich “Mensch”, das ist: der Schätzende.
Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod.
Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!
Wandel der Werthe, - das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss.
Schaffende waren erst Völker und spät erst Einzelne; wahrlich, der Einzelne selber ist noch die jüngste Schöpfung.
Völker hängten sich einst eine Tafel des Guten über sich. Liebe, die herrschen will, und Liebe, die gehorchen will, erschufen sich zusammen solche Tafeln.
Älter ist an der Heerde die Lust, als die Lust am Ich: und so lange das gute Gewissen Heerde heisst, sagt nur das schlechte Gewissen: Ich.
Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.
Liebende waren es stets und Schaffende, die schufen Gut und Böse. Feuer der Liebe glüht in aller Tugenden Namen und Feuer des Zorns.
Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als die Werke der Liebenden: “gut” und “böse” ist ihr Name.
Wahrlich, ein Ungethüm ist die Macht dieses Lobens und Tadelns. Sagt, wer bezwingt es mir, ihr Brüder? Sagt, wer wirft diesem Thier die Fessel über die tausend Nacken?
Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch - sie selber noch? -
Also sprach Zarathustra.
Von der Nächstenliebe
Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber.
Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer “Selbstloses”.
Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.
Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!
Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern.
Diess Gespenst, das vor dir herläuft, mein Bruder, ist schöner als du; warum giebst du ihm nicht dein Fleisch und deine Knochen? Aber du fürchtest dich und läufst zu deinem Nächsten.
Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrthum vergolden.
Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Nächsten und deren Nachbarn; so müsstet ihr aus euch selber euren Freund und sein überwallendes Herz schaffen.
Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von euch.
Nicht nur Der lügt, welcher wider sein Wissen redet, sondern erst recht Der, welcher wider sein Nichtwissen redet. Und so redet ihr von euch im Verkehre und belügt mit euch den Nachbar.
Also spricht der Narr: “der Umgang mit Menschen verdirbt den Charakter, sonderlich wenn man keinen hat.”
Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der Andre, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängniss.
Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen mit einander seid, muss immer ein sechster sterben.
Ich liebe auch eure Feste nicht: zu viel Schauspieler fand ich dabei, und auch die Zuschauer gebärdeten sich oft gleich Schauspielern.
Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen.
Ich lehre euch den Freund und sein übervolles Herz. Aber man muss verstehn, ein Schwamm zu sein, wenn man von übervollen Herzen geliebt sein will.
Ich lehre euch den Freund, in dem die Welt fertig dasteht, eine Schale des Guten, - den schaffenden Freund, der immer eine fertige Welt zu verschenken hat.
Und wie ihm die Welt auseinander rollte, so rollt sie ihm wieder in Ringen zusammen, als das Werden des Guten durch das Böse, als das Werden der Zwecke aus dem Zufalle.
Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache lieben.
Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.
Also sprach Zarathustra.
Vom Wege des Schaffenden
Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich.
“Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung ist Schuld”: also spricht die Heerde. Und du gehörtest lange zur Heerde.
Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn du sagen wirst “ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch”, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein.
Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen: und dieses Gewissens letzter Schimmer glüht noch auf deiner Trübsal.
Aber du willst den Weg deiner Trübsal gehen, welches ist der Weg zu dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!
Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen?
Ach, es giebt so viel Lüsternheit nach Höhe! Es giebt so viel Krämpfe der Ehrgeizigen! Zeige mir, dass du keiner der Lüsternen und Ehrgeizigen bist!
Ach, es giebt so viel grosse Gedanken, die thun nicht mehr als ein Blasebalg: sie blasen auf und machen leerer.
Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist.
Bist