Nun suchte ich die Telefonnummer der Sekretärin von Norbert, wusste aber nur ihren Vornamen. Auf der Seite des Esstisches, die Norbert gehörte, lag ein Stapel Zeitschriften und obenauf ein schwarzes Kalenderetui. Ich blätterte es auf und fand darin ein neu geschriebenes Adressen- und Telefonverzeichnis. Am nächsten Tag und besonders nach dem Gespräch mit Ringel erkannte ich das als eines der vielen Indizien. Nie hatte Norbert sein Adressenverzeichnis so offen herumliegen lassen. Es war auch neu geschrieben. Adressenverzeichnisse sind zumeist in verschiedenen Schriften und mit verschiedenen Schreibwerkzeugen abgefasst, weil die Eintragungen ja nach und nach erfolgen. Nicht so bei diesem Verzeichnis, das war neu geschrieben, in einem Zug und in einer Schrift.
An diesem Abend aber dachte ich beim Anblick des Verzeichnisses nur daran, die Telefonnummer der Sekretärin zu finden. Anhand des Vornamens fand ich sie auch. Sie berichtete mir noch einmal, was sie mir schon am Nachmittag erzählt hatte und bekräftigte ihre Angst wegen der Befunde. Als sie auch noch zu weinen anfing, war es auch um meine Beherrschung geschehen. Ab jetzt ging ich nur noch auf und ab in meiner Wohnung. Durch den Spion in der Wohnungstüre beobachtete ich das An- und Ausgehen des Ganglichtes. Jedes Angehen war der Beginn einer Hoffnung. Dem Angehen des Lichtes musste aber auch eine Liftfahrt folgen. Immer wenn der Lift sich in Bewegung setzte, zählte ich die Stockwerke, die er passierte. Sieben mussten es sein, um zu mir zu gelangen. Wir wohnten allein im Stockwerk, wenn der Lift also sechs Stockwerke passierte, dann musste er zu mir gelangen. Nur zu mir. Umsonst. Der Lift fuhr nie so weit.
Nie mehr werde ich das Geräusch des Schlüsselansteckens von außen hören, nie mehr das Aufsperren, nie mehr das stoßweise Ausatmen von Norbert, wenn er wieder viel eingekauft und alles heraufgeschleppt hat.
Ich stieß Gebete aus, alle, die mir einfielen. Ich rief Norbert, und Norbert, und Norbert. Ich beschwor ihn, nichts zu tun, bevor er mit mir gesprochen hätte.
Dann keimte eine Hoffnung in mir auf: Norbert hat Geld in seinem Büro veruntreut und ist geflüchtet. Dann würde er ja leben, vielleicht in Südamerika, er würde sich sicher melden und ich käme dann sofort zu ihm.
Um halb zehn läutete das Telefon. Ich stürzte hin, hob ab, meldete mich, aber auf der anderen Seite sprach niemand. Da horchte nur jemand. Ich rief, der andere möge sich doch melden, nichts, er legte wieder auf. Am nächsten Tag und nach dem Gespräch mit Ringel erkannte ich auch das als Indiz. Da wollte Norbert wohl noch einmal meine Stimme hören. Mein Gott, so nahe war ich an ihm dran, so nahe war er bei mir. „Warum habe ich nicht gesagt, Norbert, komm nach Hause, wir können doch alles besprechen!“, klage ich und mein Ordnung Machen wird durch mein schweres Atmen unterbrochen, ich halte mir die Hand über die Augen als gäbe es da etwas, das ich nicht sehen will. Aber was sollen die quälenden Gedanken, an dem Abend dachte ich nicht im geringsten daran, dass Norbert das sein könnte, der da horchte. Zu oft kam es vor, dass jemand anrief und sich nicht meldete.
Um dreiviertel zwölf Uhr beschloss ich, das Auf- und Abgerenne aufzugeben und mich niederzulegen. Es war fast genau die Zeit, als es wirklich sinnlos wurde, auf Norbert zu warten, weil er da eben gestorben war.
Ich muss ein wenig eingeschlafen sein.
Da läutete das Telefon. Ich sprang aus dem Bett, stolperte, fiel fast hin, sah im Vorüberfliegen auf die Uhr, es war dreiviertel eins, ich hob ab, der Bruder, Peter, war dran und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Günterl, du musst jetzt sehr stark sein.“
„Ja, was ist denn?“, fragte ich ungeduldig.
„Norbert ist nicht mehr“, sagte Peter.
Ich schwieg. Ich atmete nicht, ich bewegte mich nicht.
„Du musst jetzt stark sein“, insistierte Peter noch einmal mit immer schwierigerer Stimme.
„Ja!“, bellte ich entsetzt. „Was ist passiert!“
„Selbstmord“, sagte Peter noch, dann versagte ihm die Stimme.
Ich hörte, wie er den Hörer weitergab, dann meldete sich eine andere Stimme, stellte sich als Polizist vor, der die Nachricht zu überbringen hatte: „Sie sind der Lebensgefährte von dem Verblichenen?“
„Ja“, hauchte ich, atemlos, von Norbert als Verblichenem zu hören.
„Er hat Selbstmord begangen. U-Bahn. U4-Station Meidling. Er hat nicht gelitten, er war sofort tot.“
Um halb eins war Norbert weggegangen, jetzt war es zwölf Stunden später, wie lang wussten die das schon?
„Wann hat er es denn getan?“
Der Polizist entschuldigte sich, das wisse er nicht, das Kommissariat Meidling habe im Kommissariat Wolfersberg angerufen und ersucht, die traurige Botschaft den Hinterbliebenen persönlich zu überbringen. Mehr würden wir morgen vom zuständigen Kommissariat, das sei wohl Meidling, erfahren.
Ich legte auf. Ich war leer von Gedanken und leer von Gefühlen. Leer, leer, leer. Es war das Nicht-Verstehen eines Idioten, das chancenlose Nichts, in dem ich gefangen war. Ich ging auf und ab in dem langen Gang meiner Wohnung und schüttelte unablässig den Kopf. Schüttelte ihn manchmal so fest, als wollte ich Gedanken abschütteln, herausschütteln. Ich atmete ganz hoch, hohl und kurz. Es war eine Mischung aus ‚Nein!’ und ‚Um Gottes Willen!’ und ‚Das gibt’s doch nicht’, die ich mit mir herumtrug. Es war für mich einfach nicht vorstellbar, dass Norbert tot sein sollte. Tot. Das Wort allein! Dass er nicht, wenn auch reichlich spät, durch die quietschende Wohnungstüre doch noch in den nächsten Minuten, oder Stunden, heute würde ich ihm sogar das verzeihen, hereinkommen würde, sich entschuldigen, mir um den Hals fallen und sich vielleicht sogar ein wenig freuen würde, dass ich mir solche Sorgen um ihn gemacht hätte. Sorgen macht man sich nur um Menschen, die man liebt. Und Liebe kann gar nicht oft genug bewiesen werden, und sei es durch Sorge und Sorgen. Aber Liebe und Sorgen irrten jetzt planlos, suchend, getreten, verletzt, krank ins Leere, in dem sich Norbert befand. Wo befand sich Norbert? Im Leichen-Kühlhaus. Das alles ergab keinen brauchbaren Sinn, keinen Grund für eine sinnvolle Handlung, die ich jetzt gerne gesetzt hätte. Ich hielt die Hände vor mich, um zuzupacken, aber wo sollte ich denn zugreifen? Kein rettender Gedanke, keine Idee, kein Einfall, was jetzt zu tun wäre, um das Entsetzliche einfach unwahr zu machen, kam da. Auch kein Weinen, es war ja nicht wahr.
Da läutete das Telefon wieder. Sein Bruder Peter wollte wissen, ob irgendwelche Papiere von Norbert da seien. Ich sagte, ich würde nachschauen und ihn gleich anrufen, sowie ich etwas fände.
Norbert hatte seine Dokumentenmappe in dem Fach, in dem auch ich meine Dokumente aufbewahrte, deponiert. Seine Mappe, die sonst immer zuunterst lag, lag obenauf.
Ich nahm sie und blätterte sie durch, fand aber vorerst nichts. Erst ganz hinten, als ich sie schon fast wieder schließen wollte, erschauerte ich, als ich ein mit der Hand beschriebenes Blatt Papier vor mir sah:
‚Testament - 7.3.1991 - Ich, Unterzeichneter Norbert...’ - ich überflog es, ohne viel vom Inhalt mitzubekommen – ‚dieses Testament habe ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte eigenhändig geschrieben, datiert und mit Unterschrift versehen - Unterschrift’.
Ich blätterte weiter. Da war eine ‚Letztwillige Verfügung - 8.3.1991’ von Norbert über seinen Körper. Er wollte ihn der Anatomie zur Verfügung stellen. Es war ein Vordruck, den er nur ausgefüllt hatte. Unten aber stand in seiner geliebten Handschrift: ‚Bitte, bitte, ich will kein Begräbnis.’
Ich konnte nicht mehr schauen. Ich kann auch nicht schauen, wenn ich beim Ordnung Machen an diesen Satz gerate. Die Abrechnung beginnt zu greifen. „Mögen sich diejenigen, die mich dazu überredet haben, die Folgen selber zuschreiben - ich habe es schon einmal gesagt“, murre ich selbstzufrieden ob der abermaligen Bestätigung meiner Prophezeiung.
Ich blätterte weiter. Jetzt kam eine Liste, wer im Falle seines Ablebens zu verständigen sei. Ich war nicht erwähnt. Ich war ja auch schon verständigt. Auf derselben Seite stand auch noch, wo, ‚wenn nötig – hoffentlich’ eventuelle Begräbniskosten refundiert würden. Norbert rechnete also nicht