»Aber ich weiß doch gar nichts von der Welt. Ich kenne nur Hongkong!«, rief Lilly den beiden hinterher.
»Geh in die Bibliothek und such dir ein hübsches Ziel aus«, antwortete der Hausherr knapp.
»Ich kann aber nicht lesen.« Das Mädchen klang ziemlich kleinlaut.
Nestor blieb stehen und dreht sich zu Lilly um: »Was habt ihr denn in dem Kinderheim, wo du herkommst, gemacht?«
»Geschlafen, gegessen und gearbeitet«, kam es traurig zurück.
»Rául, bring’ Lilly Foo lesen bei.«
»Mit dem Didaktafon, Sir?«
»Nein, ganz normal. Buchstabe für Buchstabe. Wir haben Zeit!« Lachend verschwand er hinter der nächsten Tür.
»Danke, Nestor Nigglepot!« Die junge Chinesin strahlte über das ganze Gesicht.
Rául war ein guter Lehrer und Lilly eine fleißige Schülerin. Darum dauerte es nicht besonders lang, bis sich dem Mädchen der riesige Schatz dieser einmaligen Bibliothek eröffnete. Sie konnte sich kaum satt lesen, denn hier waren alle wichtigen Bücher der Weltgeschichte versammelt.
Natürlich waren viele Bücher schwierig oder in fremden Sprachen verfasst, aber die Bücher, die sie lesen konnte und auch verstand, verschlang sie. Manchmal war sie den ganzen Tag in der Bibliothek oder – wenn es schön war – im Garten und las Seite um Seite. Ihr eigener, persönlicher Wissensvorrat explodierte innerhalb weniger Monate. Allein dafür hatte es sich gelohnt, dass sie Nestor Nigglepot gefolgt war.
Zu fast allem, was sie gelesen hatte, konnte sie sich angeregt mit Rául unterhalten, der scheinbar genauso viel Freude an Büchern hatte wie sie. Und beinahe hatte sie vergessen, warum sie lesen gelernt hatte. Aber nachdem der Herbst vorüber war, fragte Nestor Lilly Foo beim Frühstück, das sie für gewöhnlich zusammen mit Rául, im unglaublich gemütlichen, aber kleinen Bunten Salon, einnahmen: »Und Lilly? Weist du mittlerweile, wo es hingehen soll?«
»Ich dachte an Ägypten … zu den Pharaonen«, war ihre unsichere Antwort.
»Da wäre ich vorsichtig«, sagte Rául nachdenklich.
»Warum?«, hakte Lilly nach.
»Gottkönige können ganz schön merkwürdig sein«, mischte sich Nestor ein.
»Das musst du gerade sagen, Nestor Nigglepot!«
»Frechdachs!«, kam es zurück.
»Na dann … Atlantis.«
»Oh nein!«, sagte Nestor, beinahe Hilfe rufend, und es war klar, dass er das mal wieder nur denken wollte, außerdem hatte er sich verschluckt.
»Nicht nach … Atlantis?«, fragte Lilly zuckersüß.
»Ach nein! Da ist immer schlechtes Wetter, da mitten im Atlantik und außerdem weiß ja keiner, ob es das überhaupt gegeben hat. Und wenn ja, dann wann? Nein, nein, besser nicht nach Atlantis.« Nestors Versuch das Ziel madig zu machen, war einfach gesagt schlecht.
Aber das Mädchen war fair und wollte es sich mit Nestor Nigglepot auch nicht verscherzen. Sie war aber clever genug, das Thema nicht ganz abreißen zu lassen. »Dann möchte ich den griechischen Philosophen Platon besuchen!«
»Platon?« Auch dieser Vorschlag schien Nestor Nigglepot, nicht wirklich recht zu sein.
Aber Rául mischte sich vermittelnd ein. »Lilly Foo hat drei Vorschläge gemacht und Platon ist berühmt, für seine großartigen philosophischen Thesen …«
»… und dafür, dass er etwas über Atlantis wusste! Dieses kleine Miststück!« Nestor Nigglepot zwang sich, das auch tatsächlich nur zu denken. Dann trank er seinen Tee aus, stand auf und sagte: »Rául, bereite alles vor. Wir reisen ins antike Griechenland.«
»Ich glaube, jetzt ist er sauer auf mich«, sagte Lilly Foo zu Rául, der sich daran machte, den Frühstückstisch abzuräumen. »War das mit Platon vielleicht doch keine so gute Idee?«
»Mach dir keine Gedanken. Eigentlich mag Herr Nestor solche Herausforderungen besonders gern. Aber er hat es natürlich lieber, wenn er selbst bestimmen kann, wie diese dann aussehen.«
»Aber irgendetwas hat ihn daran gestört, das war doch nicht zu übersehen.«
»Du willst Platon besuchen, weil du gelesen hast, das er etwas über Atlantis wusste, oder es zumindest vorgab. Und eigentlich wolltest du ja auch lieber dort hin. Aber ganz ehrlich, Nestor Nigglepot hat seine Probleme mit Atlantis.«
»Was für Probleme denn?«, Lilly hakte nach.
»Das muss er dir schon selber sagen.« Rául zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen. Dann fuhr er fort: »Komm! Es gibt viel zu tun. Willst du mir helfen?«
»Na klar! Womit fangen wir an? Koffer packen?«
»Das kommt später.«
Das Haus in dem Lilly nun lebte, barg nicht nur jede Menge Schätze und Kostbarkeiten, sondern auch viele Geräte und Maschinen, die im Alltag sehr nützlich waren. Die Bilderrahmen, mit den sich bewegenden Bildern, waren das, was Rául Bildschirme nannte, und so gab es hier noch viel mehr, was es in Hongkong im Jahre 1921 nicht gab. In den knapp fünf Monaten, die sie nun bei Nestor Nigglepot und Rául war, hatte sie schnell begriffen, was ein Telefon ist und wie es funktioniert. Sie kannte natürlich die praktischen Küchenhelfer Kühlschrank und Mikrowelle, und selbstverständlich waren ihr auch Fernsehen und Computer nicht entgangen.
Aber der Butler verstand es blendend, ihr, auf den ersten Schritten in dieses neue Leben, Wissen nahezubringen, das auch ohne Strom funktionierte. Wenn man Fernsehen aber nicht kennt, kann plötzlich zu viel davon sehr verwirren. Und Lilly zeigte, zu seiner Freude, erstaunlich wenig Interesse daran. Meist ging es ihr zu laut, zu schnell und zu bunt in dem Kasten her. Bücher waren bisher ihre liebsten Begleiter gewesen.
»Zunächst einmal müssen wir soviel wie möglich über Platon in Erfahrung bringen, so viele Informationen sammeln, wie es über ihn gibt. Am Besten wir wüssten, wo er überall war, wann und warum, mit wem er befreundet war, wo seine Familie lebte, sein Lieblingsgetränk, ob er reich war oder arm, mit welcher Sorte Geld man zu seiner Zeit bezahlte und welche Sprachen er sprechen konnte. Einfach alles!«
»Sein Lieblingsgetränk?«, stutze Lilly.
»Na ja, das wird noch das Einfachste sein. Zu Platons Zeiten kann das nur Wein oder Wasser gewesen sein. Säfte, Tee oder Limonaden gab es damals entweder noch nicht oder es war zu kompliziert, sie herzustellen. Aber das Beste wird sein, wir fragen Sofia.«
»Wer ist das denn?«, fragte das Mädchen und räumte weiter die Spülmaschine ein.
»Unser Zentralcomputer«, antwortete der Butler.
»Und das Ding weiß das alles?«
»Nicht alles, aber was es an Wissen gibt, ist dort gespeichert, übersetzt und vor allem sinnvoll miteinander verknüpft.«
»Ist das so etwas Besonders?«
»Oh ja. Es ist wie in deinem Kopf. Wenn du in einem Buch liest, ein Apfel ist grün und in einem anderen steht, er ist rund, dann verknüpfen sich diese Informationen. Du weißt dann, ein Apfel ist grün und rund. Das Internet zum Beispiel verknüpft nicht. Es kann dir nur sagen, wie viele Seiten über Äpfel du dort finden würdest.«
»Und bestimmt ist Sofia die einzige ihrer Art.«
»Das ist auch gut so.«
»Warum? Es wäre doch super, wenn es viele davon gäbe …«
»… und niemand würde sich mehr die Mühe machen, seinen eigenen Kopf zu benutzen«, ergänzte Rául.