Noch ein Deutscher gesellt sich zu uns. Warten. Endlich erscheint ein Polizist und brüllt uns an: „Pascholl!“ (Raus!)
Wir also raus, und da uns niemand hindert, sich niemand um uns kümmert, verlassen wir das Polizeipräsidium. Und da sich die Polizei vor dem Tor auch nicht um uns kümmert, gehen wir eben nach Hause.
Aber wo bleiben die anderen, wo bleibt der bayrische Hütteningenieur, wo steckt der ältere Richter, der älteste Sohn unserer Hotelbesitzerin? Niemand weiß es. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.
Kaum im Hotel angekommen, stürzen die Frauen über mich her. Wo sind die Männer? Ich weiß es nicht. Was wird mit ihnen? Ich weiß es nicht. Wir telefonieren. An unser Revier. An das Polizeipräsidium. Die alte Frau Richter setzt sich mit den einflussreichsten Leuten in Verbindung. Sie verkehren ja alle in ihrem Hotel. Sie lebt ja schon dreißig Jahre in Tiflis und kennt jedermann, und jedermann respektiert sie. Keiner gibt ihr eine bestimmte Auskunft. Immer nur Ausreden, billige Ausflüchte und flüchtige Trostworte, die aber gar nicht ernst gemeint sind. Früher hatte sie so viel Einfluss. Jetzt ist das alles wie mit einem Ruck abgeschnitten, als wäre es nie gewesen.
Wilde Gerüchte gehen in der Stadt über die beiden Söhne der Frau Richter. Sie sind ja stadtbekannt wie die Mutter. Der eine soll gerade dabei erwischt worden sein, wie er russische Pläne auf die Post gab für Deutschland. Der andere soll Photographien russischer Befestigungen gesammelt und nach Berlin geschickt haben und dergleichen mehr, woran natürlich kein wahres Wort ist. Endlich gelingt es der Frau des jüngeren Sohnes, zum Stadtkommandanten vorzudringen. Endlich gelingt es der alten Dame, beim Statthalter, dem allmächtigen Grafen Woronzow-Daschkow, einem Günstling des Zaren, empfangen zu werden. Aber immer nur Ausflüchte und nichtssagende Redensarten ...
Außer den Offizieren ziehen sich die Russen immer mehr von dem Hotel zurück. Man beginnt, es zu meiden. Wenn aber einer einmal wiedererscheint, der sonst Stammgast hier war, vielleicht auch eine tüchtige Portion Schulden hier hat, dann kommt er nur, um die alte Dame zu quälen. Ob sie noch nicht wisse, dass ihr einer Sohn morgen gehängt werde? Oder er kondoliert direkt mit scheinbar teilnahmsvollem Gesicht, weil der eine Sohn gestern hingerichtet worden sei. Hat er seinen Zweck erreicht und die alte Dame der Verzweiflung nahegebracht, macht er sich schleunigst aus dem Staube.
Nun wagt sich jeder Neid wider das altangesehene Haus hervor und wird zur Niedertracht. Es ist ja jetzt patriotisch, sich gegen die Deutschen niederträchtig zu benehmen. Und gegen diese alte, harmlose Dame hat man dazu ja so einen prachtvollen Vorwand. Im russischen Klub wurde allgemein erzählt, dass im Hotel London ein ganzes Nest von deutschen Spionen auszuheben sei. Schon am Tage vor der Kriegserklärung hätten die Deutschen im Hotel London über den Krieg Bescheid gewusst und ein wüstes Sektgelage abgehalten, bei dem auf Kaiser Wilhelm Hochs ausgebracht und auf den Untergang Russlands die Gläser geleert wurden.
So sah jenes harmlose Sektfrühstück vom 2. August, von dem ich erzählte, jetzt aus. Und der eigentliche Urheber dieses Frühstücks, der eigentliche Veranlasser und Veranstalter der ganzen Tat, der Balte, der Russe, der Aristokrat, der Herr Baron Drachenfels, selbst Mitglied des russischen Klubs, er trat doch selbstverständlich als Ehrenmann gegen solche Gerüchte auf und legte den wahren Sachverhalt dar, denn er war doch der nächste dazu? Er dachte gar nicht daran. Er war zu feig, die Sache aufzuklären, und ließ es ruhig zu, dass unschuldige Frauen und wehrlose Männer darunter zu leiden hatten. Ja, er besaß sogar die perfide Frechheit, dem Direktor des Hüttenwerkes, bei dem der bayrische Ingenieur angestellt war, zu erklären, dieser habe das Frühstück arrangiert und sei nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, das Wohl des Deutschen Kaisers auszubringen. Auf Sekt habe er aber bestanden, und so sei es nur gelungen, dass dank seiner Vorstellungen wenigstens russischer Sekt getrunken wurde...
Jetzt bin ich der einzige Deutsche im Hotel London. Um mich her nur noch weinende, verzweifelte Frauen, denen Männer und Söhne fortgenommen waren. Niemand wusste damals, welchem Schicksal sie entgegengingen.
Eines Abends spät erscheint ein Gefängnisbeamter und gibt gegen hundert Rubel Auskunft über das Schicksal der Verhafteten. Wir erfahren, dass einige zwanzig, darunter der jüngere Sohn des Hauses, im Zuchthaus sitzen. Mit ihm auch der deutsche Konsul Dr. Anders. Wir erfahren, dass man 250 andere Deutsche, da die Zuchthäuser für sie zu eng geworden waren, in einer Kaserne untergebracht hat, bis sie „verschickt“ werden. Wir erfahren durch den Mann, dass alle Deutschen vom 18. bis 45. Lebensjahr eingesperrt und „verschickt“ werden. Ganz einerlei, ob sie militärpflichtig, militärtauglich oder keins von beiden sind, denn, wie der Mann sich ausdrückt, wenn der Kaiser Wilhelm befiehlt, müssen sie doch alle gegen uns kämpfen. Wir erfahren, dass dank eines Erlasses des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des erlauchten Höchstkommandierenden der russischen Heere, auf alle Deutschen zwischen 18 und 45 Jahren durch das ganze weite, heilige Russland hin eine förmliche Jagd abgehalten wird, um sie einzusperren und zu „verschicken“. Und nun weiß ich endlich auch, warum man mich wieder hat laufen lassen. Ich habe das 45. Lebensjahr vollendet, komme also nicht mehr in Betracht. Ein erbärmliches Los, das erbärmlichste von allen.
Den Gefangenen in der Kaserne wurde es erlaubt, zu bestimmten Stunden am Nachmittag ihre Angehörigen zu empfangen. Sie durften den Männern Essen und wärmere Sachen für die nicht mehr heißen Nächte bringen. Sie brachten ihnen auch Geld.
Denen, die im Zuchthaus saßen, durfte man einmal in der Woche Essen bringen. Das Essen wurde von den Zuchthausbeamten in Empfang genommen. Ob die Gefangenen es auch wirklich erhielten, war nicht zu erfahren. Niemand durfte sie sehen oder sprechen.
Jene in der Kaserne durften wenigstens Abschied nehmen von ihren Angehörigen, als sie „verschickt“ wurden. Die im Zuchthaus haben bis auf diesen Tag nichts mehr von ihren Angehörigen zu sehen bekommen. Auch ihnen zu schreiben, war verboten.
Dabei hatten sie nicht mehr und nicht weniger verbrochen als die in der Kaserne Eingesperrten. Sie hatten ebenfalls nichts weiter verbrochen, als dass sie deutsche Reichsangehörige waren. Wir wissen das deshalb ganz genau, weil wir mit einigen dieser Zuchthäusler später in Sibirien zusammen waren und aus ihren Papieren zu ersehen war, dass auch gegen sie nichts weiter vorlag. Seit Kriegsausbruch ist jeder Reichsdeutsche, der auf russischem Staatsgebiet betroffen wurde, ein Verbrecher und wird als solcher behandelt. Ob dieser Verbrecher, bevor er „verschickt“ wird, im Zuchthaus sitzt oder anderswo, ist reine Zufallssache. War er vor Kriegsbeginn ein besonders angesehener Deutscher oder ein gefürchteter Konkurrent russischer Kaufleute, so hatte er gute Aussicht, zuerst ins Zuchthaus zu kommen. Kannte ihn niemand und kam er als Konkurrent nicht in Betracht, so hatte er einige Aussicht, in die Kaserne zu kommen. Das war neben dem reinen Zufall der einzige Gesichtspunkt, der deutlicher sichtbar wurde...
Zwei Tage nach Kriegsausbruch war die russische Mausefalle geschlossen. Kein Reichsdeutscher konnte ihr noch entkommen. Zunächst wurden alle Reichsdeutschen zwischen 20 und 45 Jahren eingefangen, eingesperrt und dann „verschickt“. Später verfuhr man auch mit den Deutschen vom 17. Lebensjahr bis zum 50. genauso. Ob gesund, ob krank, ob militärpflichtig, militärtauglich oder nicht, ob lahm oder blind, einerlei, es sind Reichsdeutsche, sie sind Verbrecher und werden nach Sibirien verschickt. Und im ganzen weiten russischen Reich erhob sich nirgends eine Stimme, die dagegen protestierte, die dies Verfahren der Regierung als das erkannte, was es war: nämlich eine perfide, niederträchtige Gemeinheit und nichts anderes. Aber es gab auch im weiten russischen Reich keinen Neutralen, weder einen Botschafter noch einen Konsul oder sonst etwas, der dagegen protestiert hätte. Und wir haben auch nie etwas davon gespürt, dass man in Deutschland irgendetwas Energisches gegen diese Gemeinheit unternahm. Wussten die Deutschen im Reich nicht, was mit ihren Brüdern in Russland