Es passierte, als Ally gerade den Verschluss der Flasche öffnen wollte. Plötzlich war sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung. Zwei Frauen standen mitten in ihrer Wohnküche. Es schien ihnen nicht merkwürdig vorzukommen, in einer fremden Wohnung aufzutauchen. Ally aber zuckte zusammen, die Flasche rutschte aus ihrer Hand und zerschellte klirrend auf dem Boden. Dabei spritzte der Inhalt in alle Richtungen. Allys Hose war ganz feucht. Der Wodka breitete sich unter dem Sofa und dem Tisch ganz langsam aus. Der Geruch von Alkohol lag in der Luft. Aber all das war im Moment nicht wichtig. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie zitterte leicht vor Angst und starrte die beiden Frauen an, welche sich kaum voneinander unterschieden: Beide hatten lange silbergraue Haare und trugen lange wallende weiße Gewänder. Sie schienen Zwillinge zu sein.
„Wer sind Sie?“, brachte Ally mühsam hervor. Die beiden Frauen lächelten Ally freundlich an.
„Hab keine Angst!“, sagte eine von ihnen. „Wir wollen dir nur sagen, dass du es nicht tun sollst!“, fügte die andere hinzu. Nun war Ally erst recht sprachlos. Woher wussten sie von ihrem Vorhaben? Ally hatte niemandem davon erzählt.
„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen!“, sagte sie schließlich leise. Die beiden Frauen tauschten vielsagende Blicke. Sie glaubten ihr nicht.
„Gehen Sie!“, meinte Ally weiter. Aber sie rührten sich nicht von der Stelle.
„Wir können dir helfen“, sagte eine von ihnen.
Ally schüttelte den Kopf. „Ich brauche keine Hilfe!“ Mit einem sanften Lächeln kam eine der Frauen näher. „Es gibt noch so viel Schönes in dieser Welt, dass du alles versäumen würdest, wenn du dir jetzt dein Leben nimmst!“
„Woher ...“, setzte Ally an und brach dann ab. Sie kannte diese Frauen nicht. Hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. „Wir wissen so einiges“, sagte nun die andere Frau. „Und wir wissen auch, dass es nicht dein Schicksal ist, jetzt zu sterben.“ Ally schnaubte. Sie ließ sich nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte.
„Ach, und was ist dann mein Schicksal?“ Schon lange glaubte sie nicht mehr, dass ihr Leben zu mehr als dieser Einsamkeit taugte. Wieder tauschten die beiden Frauen einen Blick.
„Du bist eine Göttin“, sagte die eine. „So wie wir!“, fügte die andere hinzu. Was sollte denn das? Einen Augenblick starrte Ally die beiden Frauen einfach nur an. Und brach dann in schallendes Gelächter aus.
„Ja genau!“, murmelte sie sarkastisch. Als sie sich wieder beruhigt hatte, meinte sie: „Das war nun alles ganz lustig, aber bitte gehen Sie jetzt!“ Wieder machten die beiden Frauen keine Anstalten zu gehen. Stattdessen hob die Frau, die näher bei ihr stand, ihre Hand und machte damit eine kleine kreisende Bewegung. Im nächsten Moment kam Bewegung in die Scherben der Flasche auf dem Boden. Sie stiegen in die Höhe und setzten sich von selbst wieder zu einer Flasche zusammen. Auch der ganze Inhalt befand sich nun wieder in der Flasche. Auf Allys Hose waren keine nassen Flecken mehr zu sehen. Die nun wieder heile Flasche landete mit einem dumpfen Laut auf der Tischplatte, zitterte leicht und blieb schließlich ruhig stehen.
Ally starrte auf die Flasche. Wie war das möglich? Ally konnte es sich nicht erklären. War es vielleicht doch möglich, dass die beiden Frauen Göttinnen waren? Es war nicht so, dass Ally nicht an Magie glauben würde. Sie war davon überzeugt, dass Magie und Übernatürliches existieren würde, aber sie hatte nie damit gerechnet, dass sie tatsächlich einmal damit in Berührung kommen würde. Es musste eine rationale Erklärung für das Erscheinen der beiden Frauen geben. Ihr Blick fiel auf die Tabletten. Vielleicht hatte sie die Pillen schon genommen und hatte jetzt einen merkwürdigen Traum? Ja, das musste es sein! Es konnte keine andere Erklärung geben.
„Ich muss träumen!“, murmelte Ally leise. Die junge Frau wusste zwar nicht, ob dieser Traum nun bedeutete, dass die Tabletten wirkten und sie sterben würde, oder ob sie einfach aufgrund einer Überdosis in Ohnmacht gefallen war und irgendwann wieder mit furchtbaren Bauchschmerzen aufwachen würde. Ally beschloss, in diesem merkwürdigen Traum einfach mitzuspielen.
„Du träumst nicht!“, erklärte in diesem Moment eine der beiden Frauen.
„Wenn das so ist ...“, fing Ally an. Trotz ihres Entschlusses hörte sie sich ungläubig an. „Wer seid Ihr?“ Die beiden Göttin stellten sich ihr daraufhin als Sharon und Shila vor. Ally fürchtete, dass sie die Zwillinge wohl immer miteinander verwechseln würde.
„Ich heiße Alyssa Sullivan!“, meinte sie überflüssigerweise, da die Göttinnen ihren Namen natürlich bereits kannten. Sie übergingen Allys Bemerkung, was die junge Frau sehr freute, da es ihr doch irgendwie peinlich gewesen war. Sie schienen bereits alles von ihr zu wissen, warum sollte sie sich dann also noch vorstellen? Stattdessen meinte Sharon – zumindest glaubte Ally, dass es Sharon war –: „Es ist ganz alleine deine Entscheidung, ob du dein Schicksal annimmst oder so weiterlebst wie bisher!“
Ally ließ sich diese Aussage durch den Kopf gehen. „Was würde sich ändern, wenn ich meinem Schicksal zustimmen würde?“
In Wahrheit hatte sie sich längst entschieden. Vollkommen egal, ob es nun ein Traum war oder doch Realität: Sie würde auf jeden Fall zustimmen. Ihr Leben hatte doch sonst nichts zu bieten, so würde sich zumindest etwas ändern.
Die beiden Schwersten tauschten einen Blick und erwiderten gleichzeitig: „Alles!“ Es war genau die Antwort, die Ally erwartet hatte. Sie wollte doch auch, dass sich nun alles ändern würde.„Ja, das dachte ich mir schon ... aber was müsste ich dafür tun?“
„Du hättest einiges zu lernen!“, fing Shila an.
„Wie man Magie anwendet ...“
„Wie man sich per Gedankenkraft von einem zu einem anderen Ort bewegt ...“
„Wie man Wunden heilt ...“
„Wie man fliegt ...“
„Wie man sich der Sammlung bedient ...“
Sharon und Shila zählten noch viele andere Dinge auf. Schließlich unterbrach sie Ally.
„Ich hab es verstanden: Ich muss einen Götterkurs machen!“ Die Göttinnen schmunzelten. Anscheinend hatte diesen Unterricht noch nie niemand Götterkurs genannt. Ally brannten tausende Fragen auf der Seele, aber sie wusste nicht, ob sie diese einfach stellen konnte. Die altbekannten Ängste blockierten ihr Hirn, und die Fragen fanden den Weg aus ihrem Mund nicht: Was war die Sammlung? Welche Geschichte musste sie lernen? Wo wohnten die Götter? Musste sie die Bibel lesen? Nicht dass Ally das nicht schon versucht hatte, aber nach ungefähr hundert Seiten hatte sie aufgegeben, das langweilige Buch lesen zu wollen.
Sie rang innerlich mit sich, um dann nach Stunden – zumindest kam es ihr vor wie Stunden – leise zu fragen: „Was genau ist die Sammlung?“ Eine der beiden Göttinnen – Ally glaubte zu wissen, es war Shila – erklärte ihr, dass es sich dabei um eine Art magische Datenbank handeln würde, wo alles über alles und jeden abgespeichert war. Götter und Engel können mit der Kraft der Gedanken darauf zugreifen. Es schien also nicht wahr zu sein, dass Götter alles wissen – doch zumindest schienen sie zu wissen, wo sie alles finden.
Inzwischen hoffte Ally, dass es sich nicht um einen Traum handeln würde, weil ihr größter Wunsch nach Magie in ihrem Leben endlich wahr zu werden schien.
„Wo kommen die Götter her?“
„Wir hatten gehofft, dass du das fragst“, sagte Sharon. Sie hob die Hand, und in der Luft über Allys Couchtisch erschien ein Bild von der Erde, wie ein schwebender leicht durchsichtiger Globus.
„Ist das ein Hologramm?“, flüsterte Ally. Sie war so aufgeregt und