Eine Geschichte aus zwei Städten. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197937
Скачать книгу
Eigentümlichkeit bestand in dem Umstand, daß sie eine Frucht der Einsamkeit und des völligen Mangels an Übung war. Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor ins Weite gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, daß sie auf die Sinne den Eindruck einer Farbe machte, die einmal schön war, jetzt aber zu einem matten Fleck verblichen ist. Sie klang so gedämpft und verfallen, daß sie unter dem Boden hervorzukommen schien, und deutete so ausdrucksvoll auf ein hoffnungsloses, verlorenes Wesens, daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der der Heimat und seinen Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich hinlegt, um zu sterben.

      Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.

      »Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher verwandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helle vertragen?«

      Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchens bald rechts, bald links von sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Ob Ihr mehr Helle vertragen könnet?«

      »Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«

      Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.

      Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Letztere hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunkeln Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären. Bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig maroden Körper. Er, sein altes Kanevaswams, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderlumpen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr entdecken konnte.

      Er hatte seine Hand zwischen seine Augen und das Licht gebracht, und sogar die Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er die Gewohnheit verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen: auch sprach er nie, ohne sich zuvor in dieser unsteten Weise zu ergehen, die ihn gelegentlich auch das Reden ganz und gar vergessen ließ.

      »Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«

      »Ich kann nicht sagen, ob ich's imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«

      Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber hin.

      Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten. Dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatte nur einen Augenblick gedauert.

      »Ihr seht, Ihr habt einen Besuch«, sagte Monsieur Defarge.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Hier ist ein Besuch.«

      Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.

      »Gebt her«, sagte Defarge, »Hier ist ein Herr, ein Kenner von guten Schuhen, wenn er welche sieht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur.«

      Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.

      »Sagt dem Herrn, was für ein Schuh dies ist und wer ihn gemacht hat.«

      Es trat eine mehr als gewöhnlich lange Pause ein, bis der Schuhmacher endlich erwiderte:

      »Ich vergaß, was Ihr mich fragtet. Was habt Ihr gesagt?«

      »Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollet, was für ein Schuh dies sei.«

      »Es ist ein Frauenzimmerschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«

      Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.

      »Und wie heißt der Verfertiger?« fragte Defarge.

      Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten. Darauf fuhr er mit einer Hand über das bärtige Kinn. Dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines rasch dahinsterbenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.

      »Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«

      »Jawohl.«

      »Hundertundfünf, Nordturm.«

      »Ist dies alles?«

      »Hundertundfünf, Nordturm.«

      Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.

      »Ihr seid kein Schuhmacher von Gewerbe?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.

      Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.

      »Ob ich ein Schuhmacher von Gewerbe sei? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich –«

      Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die vorhin beschriebenen Gesten. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gegenstand wiederaufnahm.

      »Ich bat um die Erlaubnis, mich unterrichten zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«

      Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:

      »Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«

      Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Frager an.

      »Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Desarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«

      Wahrend