An solche Grundsätze knüpft Marc Aurel die Betrachtung, wie wenig eine Persönlichkeit, ganz einerlei ob sie bedeutend oder unbedeutend sei, im großen Strom des Daseins gelte. Deshalb ist es verkehrt, Vergängliches zu sehr zu lieben, sein Herz an Sterblichkeit zu hängen und Ruhm als heiliges Gut zu begehren.
Diesem Verneinen und Ablehnen steht als positiver Kern der Lehre die Pflichttreue gegenüber, trotz der Eitelkeit und Vergänglichkeit allen Strebens der Sterblichen. Seiner Lebensstellung und seinem kräftigeren Charakter entsprechend hält Marc Aurel nachdrücklicher an den Pflichten des Einzelnen der menschlichen Gesellschaft gegenüber fest, als es die Stoiker im allgemeinen und der phrygische Sklave Epiktet im besonderen getan. Aus diesem Grund lehnte er das Christentum vollständig ab, wenn er auch wie die Christen Duldung und allgemeine Menschenliebe verlangte. Er spricht fast immer von Göttern, manchmal von “dem Gott” und selten von “Zeus”, der ihm als Gesamtausdruck der Gottheit vorschwebt. Äußerlich hielt er streng an dem bestehenden öffentlichen Kultus fest, in dem er als Oberhaupt des römischen Staates eine politische Notwendigkeit sah, innerlich war er gottgläubig im Sinne der Philosophen, nahm “die Volksgötter” für Symbole und sagte sich, daß es nicht verlohne noch menschenwürdig sei, in einer Welt ohne Gottheit zu leben. Aus diesem seinem Glauben und aus einer festbegründeten politischen Überzeugung sah er im Gebaren der Christen Auflehnung gegen die Staatsgewalt, also eine Schädigung des Gemeinwohls und ging mit heftigen Verfolgungen gegen die Aufwiegler vor. Grundlosen Trotz nannte der milde Kaiser das Benehmen der Märtyrer.
Im sittlichen Leben des Menschen ruht der Schwerpunkt seiner Weltanschauung. Ihm, dem vielbeschäftigten, vom Tage vollauf in Anspruch genommenen Herrscher, liegt es fern zu forschen, dialektisch zu arbeiten oder überhaupt ein System aufzustellen. Seine Weisheit ist Lebenskunst. Er baut sie auf dem Wissen und den Erkenntnissen seiner Zeit, wie ein Emerson, ein Lubbok, ein Maeterlinck ihre Weltanschauung auf die Wissenschaft ihres Jahrhunderts stellten, ohne in der Theorie einen Fortschritt zu bedeuten. Vernünftige Arbeit ist ihm das Ziel, das ein vernunftbegabtes Wesen verfolgen muß und das allein Glück wie zeitliche Güter zu bieten vermag. Aber nur wer sich zu erheben vermag über jedes persönliche Interesse an Dingen und Menschen, wer mit jedem Wunsch und jeder Begierde fertig ist, mit der Gegenwart zufrieden und mit dem Tode vertraut erscheint, zeigt sich mit der Natur im Einklang und erfüllt die stille Pflicht, sich und sein Leben als belanglosen Teil des Ganzen zu betrachten.
Was in den Selbstbetrachtungen mit feierlicher Größe niedergelegt war, hat lange unbeachtet und vergessen in stillen Büchersammlungen überwintert, wie das Samenkorn im tiefgepflügten Feld. Unter den Wirren der Völkerwanderung und während der Jahrhunderte der Scholastik dachte niemand des Kaisers, der als Gefolgsmann der Stoa mit dieser Lehre christlicher Verachtung anheimgefallen war. Erst als die geistige Bewegung der Renaissance mit dem Humanismus einsetzte, begann außer Plato auch die Stoa beachtet zu werden, wenn sich auch die Wertschätzung zunächst auf Seneca beschränkte. Doch es war noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis Spinoza in seinem Ideal des Weisen eine Gestalt schuf, die sich wohl mit Marc Aurel vergleichen läßt. In der Ethik sagt Spinoza “Der Weise ... wird in der Seele kaum beunruhigt sondern seiner selbst, Gottes und der Außenwelt mit einer gewissen Notwendigkeit bewußt. Er hört niemals auf zu sein und ist immer in tiefster Seele wahrhaft befriedigt.” Auch Leibniz benutzte die Gedankenreihen der Stoiker in der Theodizee, deren Aussprüche manchmal stark an die Selbstbetrachtungen anklingen. Daß Kant und nach ihm Fichte den Pflichtgedanken ähnlich wie ihn der kaiserliche Philosoph gefühlt, zu synthetischer Entwicklung brachten, ist bekannt, Verwandtes klingt in Schleiermacher, in Schopenhauer und in den modernen Denkern an, die abseits von dem Wirken der Fachphilosophen sich bemühen, der Gegenwart eine praktische Ethik zu geben.
In deutscher Sprache ist Marc Aurels Büchlein öfters an die Öffentlichkeit gekommen. Die vorliegende Neuherausgabe schließt sich an Schneiders vielgerühmte Übersetzung, die zum erstenmal im Jahr 1864 erschien und mehrfach aufgelegt wurde, die fehlenden Stellen (über 100 Nummern hat Schneider ausgelassen) sind zum Teil nach der Ausgabe von Cleß (aus dem Jahr 1866) ergänzt, zum Teil nach dem griechischen Text unter Vergleichung der Cleßschen Übersetzung neu hergestellt.
Der Gegenwart bietet das schlichte Selbstbekenntnis eines großen Mannes aus dem Altertum viel ernste Anregung und stärkt den Wunsch, in wohlbegründeter Weltanschauung Halt und Richtung zu finden.
Alexander v. Gleichen-Rußwurm
Erstes Buch
1.
Von meinem Großvater [Verus] weiß ich, was edle Sitten sind und was es heißt: frei sein von Zorn.
2.
Der Ruf und das Andenken, in welchem mein Vater steht, predigen mir Bescheidenheit und männliches Wesen.
3.
Der Mutter Werk ist es, wenn ich gottesfürchtig und mitteilsam bin; wenn ich nicht nur schlechte Taten, sondern auch schlechte Gedanken fliehe; auch daß ich einfach lebe und nicht prunke wie reiche Leute.
4.
Mein Urgroßvater litt nicht, daß ich die öffentliche Schule besuchte, sorgte aber dafür, daß ich zu Hause von tüchtigen Lehrern unterrichtet wurde, und überzeugte mich, daß man zu solchem Zweck nicht sparen dürfe.
5
Mein Erzieher gab nicht zu, daß ich mich an den Wettfahrten beteiligte, weder in Grün noch in Blau, auch nicht, daß ich Ring- und Fechterkünste trieb. Er lehrte mich Mühen ertragen, wenig bedürfen, selbst Hand anlegen, mich wenig kümmern um anderer Leute Angelegenheiten und einen Widerwillen haben gegen jede Ohrenbläserei.
6.
Diognet bewahrte mich vor allen unnützen Beschäftigungen; vor dem Glauben an das, was Wundertäter und Gaukler von Zauberformeln, vom Geisterbannen usw. lehrten; davor, daß ich Wachteln hielt, und vor andern solchen Liebhabereien. Er lehrte mich ein freies Wort vertragen; gewöhnte mich an philosophische Studien, schickte mich zuerst zu Bacchius, dann zu Tandasis und Marcian, ließ mich schon als Knabe Dialoge verfassen und gab mir Geschmack an dem einfachen, mit einem Fell bedeckten Feldbett, wie es bei den Lehrern der griechischen Schule im Gebrauch ist.
7
Dem Rusticus verdanke ich, daß es mir einfiel, in sittlicher Hinsicht für mich zu sorgen und an meiner Veredlung zu arbeiten; daß ich frei blieb von dem Ehrgeiz der Sophisten; daß ich nicht Abhandlungen schrieb über abstrakte Dinge, noch Reden hielt zum Zweck der Erbauung, noch prunkend mich als einen streng und wohlgesinnten jungen Mann darstellte, und daß ich von rhetorischen, poetischen und stilistischen Studien abstand; daß ich zu Hause nicht im Staatskleid einherging oder sonst etwas derartiges tat, und daß die Briefe, die ich schrieb, einfach waren, so einfach und schmucklos, wie er selbst einen an meine Mutter von Sinuessa aus schrieb. Ihm habe ich´s auch zu danken, wenn ich mit denen, die mich gekränkt oder sonst sich gegen mich vergangen haben, leicht zu versöhnen bin, sobald sie nur selbst schnell bereit sind, entgegenzukommen. Auch lehrte er mich, was ich las, genau zu lesen und mich nicht mit einer oberflächlichen Kenntnis zu begnügen, auch nicht gleich beizustimmen dem, was oberflächliche Beurteiler sagen. Endlich war er´s auch, der mich mit den Schriften Epiktets bekannt machte, die er mir aus freien Stücken mitteilte.
8
Apollonius zeigte mir, daß Geistesfreiheit eine Festigkeit sei, die dem Spiel des Zufalls nichts einräumt; daß man auf nichts