»Ich habe auch Hunger, Clara, und ich möchte auch nach Hause. Komm jetzt, wenn wir uns streiten, machen wir alles nur noch schlimmer.«
Der Junge nahm die Hand seiner Schwester und nach einem kurzen Zögern folgte sie ihm und drückte seine Hand ganz fest.
»Das ist alles nur die Schuld vom dummen Boschi. Ich spiele nie wieder mit Boschi«, erklärte sie mit der inbrünstigen Entrüstung, zu der nur Kinder und religiöse Narren fähig waren.
Boschi war die Katze eines Nachbarn, die sie heute Morgen getroffen hatten. Nach dem Frühstück waren sie hinter dem am Rand des Dorfes stehenden Haus ihrer Familie zum Spielen gegangen. Ganz so, wie sie es an fast jedem Tag taten. Boschi war nicht jeden Tag da, sie war eine kleine Streunerseele, die dort herumlief, wo es ihr gefiel. Manchmal gefiel es ihr auch, wenn die Kinder mit ihr spielten. Wenn Käsestücke im Spiel waren, so wie heute Morgen, tat es das fast immer.
Thomas und Clara hatten mit Bändern und dem Käse, den der Junge beim Frühstück in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, mit dem Tier herumgetollt. Dabei waren sie immer weiter vom Haus weggelaufen. Sie spielten öfter am Waldrand, meist mit den anderen Kindern des Dorfes. In der Gegend um Flusswalde herum hatte man schon seit Jahrzehnten weder Wildschweine noch andere gefährliche Tiere gesehen. Der Wald galt weiter draußen als tückisch, war in Dorfnähe aber licht und harmlos.
Die Kinder bekamen eingeschärft, nie weiter wegzulaufen als bis dorthin, wo sie die letzten Häuser noch sehen konnten. Viele von ihnen hielten sich sogar meistens daran. Dieses Mal reichte das nicht.
Boschi hatte ziemlich genau zu der Zeit, als die letzten Käsekrumen gefressen waren, plötzlich keine Lust mehr zum Spielen gehabt. Da hatten die Kinder sich bereits zwischen den ersten Bäumen des Waldrandes am südlichen Ende von Flusswalde befunden. Die Katze, die sich selbstverständlich überall auskannte, war fortgesprungen und tiefer in den Wald gerannt. Beide waren ihr nachgelaufen, bis Thomas schließlich irgendwann stehengeblieben war und nach seiner Schwester gerufen hatte. Sie hatten eine Weile verschnauft, Boschi war natürlich längst weg gewesen, und sich dann auf den Heimweg gemacht. Zumindest hatten sie das versucht. Und sich wenig später verirrt.
Thomas hatte sein bestes getan, wieder aus dem immer dichter werdenden Wald herauszufinden. Aber auch wenn er ein aufgeweckter Junge war, blieb er nur ein Achtjähriger, der noch nie so weit von zu Hause entfernt gewesen war. Jedenfalls nicht ohne Begleitung und abseits der Straßen und Wege. In den Tagen des Grau konnte man sich nie sicher sein, wo genau sich die Sonne gerade befand. Das Tageslicht war eine tückische Angelegenheit geworden. Es war bei dem schummrigen Licht schon für Erwachsene schwer genug, sich in der Wildnis zu orientieren.
Die beiden Kinder waren Stunde und Stunde herumgeirrt und hatten sich dabei immer tiefer in den Wald hineinbewegt. Ohne es zu bemerkten, waren sie dabei weit nach Süden abgekommen. Das war einerseits schlecht gewesen, weil sich ihr Dorf im Norden befunden hatte. Es war aber auch ihr Glück gewesen, weil sie ebenso gut nach Westen oder Osten hätten laufen können. Und in diesen Himmelsrichtungen gab es auf Tage hin nur dichten und dunklen Wald.
Thomas warf seiner Schwester beim Gehen einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte etwas Rotze unter der Nase, aber das sagte er ihr nicht. Wenn man seiner kleinen Schwester sagte, dass sie Rotze im Gesicht hatte, schämte sie sich oder wurde wütend. Oder beides. Dann würde sie wieder anfangen zu weinen, und das konnte er absolut nicht gebrauchen. Am liebsten hätte er sich selbst unter einen Baum gesetzt und geweint.
Es war kalt, ihre Stoffkleider waren inzwischen klamm und klebten an ihren Körpern. Er hatte schrecklichen Hunger und seine Beine schmerzten. Sie hatten aus ein paar Pfützen im Wald getrunken, aber irgendwelche Wurzeln, Beeren oder Blätter zu essen, hatte er sich nicht getraut. Er hatte auch darauf geachtet, dass Clara es nicht tat. Er war ein Kind, aber weder er noch seine Eltern waren dumm. So wusste er, dass man heutzutage nicht mehr sicher sein konnte, was man aus dem Wald essen konnte und was giftig war. Seine Eltern erklärten solche Sachen beiden Kindern, aber Thomas immer einmal mehr als seiner Schwester. Er war schließlich der Ältere. Sie wussten, dass er auf seine Schwester aufpasste. Sie wussten aber auch nur zu gut, was passierte, wenn man nachlässig wurde. Sie hatten es auf bittere Art und Weise lernen müssen.
Thomas und Clara stritten sich nicht oft für Kinder ihres Alters. Clara hörte öfter und besser auf ihren Bruder, als es kleine Mädchen für gewöhnlich taten. Das war ebenso ungewöhnlich wie die Sorgfalt des Jungen, mit der er auf die Kleine achtgab. Vor knapp zwei Jahren hatten sie noch eine Schwester gehabt. Sie hatte allein gespielt, hatte versucht auf einen Baum zu klettern und war gestürzt. Das passierte natürlich immer mal wieder und meist ging es glimpflich aus. Mit einem verstauchten Knöchel oder einem aufgeschürften Knie. An jenem vergangenen Tage hatte es das nicht getan.
Die Dörfler wurden von den gellenden Schreien des Mädchens alarmiert und erreichten sie kurze Zeit später. Sie hatte es im Fallen geschafft sich so zu drehen, dass sie auf den Füßen aufgekommen war. Aber sie war schon viel zu hoch in den Ästen gewesen, um sich dadurch retten zu können. Sie hatte vor dem Baum gelegen und geschrien wie eine Banshee, als die ersten Dorfbewohner sie fanden. Ihre Beinchen waren an den Knien abgeknickt und die Unterschenkel zertrümmert, Knochen staken aus blutigen Wunden. Als sie das Mädchen bewegten, war es zu Erleichterung aller bewusstlos geworden. Es ging danach sehr schnell. Als die alte Dedra einige Stunden später im Dorf eintraf, war die kleine bereits tot.
Von diesem schrecklichen Tag an ging man in der Familie sehr sorgsam miteinander um. Deswegen kämpfte Thomas seine eigene Angst nieder, so gut er konnte. Die Erwachsenen würden sicher versuchen sie zu finden, aber der Wald war groß und umgab das Dorf in drei Himmelsrichtungen.
»Na na, wohin seid ihr denn unterwegs«, ertönte plötzlich eine krächzende Stimme, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Clara und Thomas schrien vor Schreck zugleich auf und das kleine Mädchen umklammerte krampfhaft die Hüften ihres Bruders. Thomas sah die Greisin als Erster und ein Zittern lief durch seinen kleinen, erschöpften Körper.
»Dedra«, sagte er leise, »sie ist es wirklich. Alles ist gut, Clara, wir sind in Sicherheit, es ist die alte Dedra.«
Beide Kinder weinten jetzt ein bisschen. Thomas lautlos und Clara leise schluchzend, während die alte Frau auf sie zugehumpelt kam. Die krummgewachsene, magere Gestalt war an sich kein sonderlich vertrauenerweckender Anblick. Mit den graubraunen, geflickten Kleidern und dem zottigen eisgrauen Haar hätte sie ebenso gut eine Landstreicherin sein können. Aber wie alle Kinder im Dorf kannten die Geschwister sie natürlich von ihren zahllosen Besuchen. »Nun beruhigt euch erst einmal, ihr Lausekinder. Was macht ihr denn im Wald der alten Dedra? Seid beim Spielen zu weit rausgelaufen und habt euch verirrt, was?«
»Boschi war schuld«, rief das kleine Mädchen spontan und wieder klang dabei ihre Empörung ob der Gemeinheit des Tieres heraus.
»Ah, die Katze vom alten Cushing hat euch also in den Wald gelockt, ich verstehe«, meinte Dedra amüsiert und sah dem Jungen in die Augen.
»Ihr seid hier zu weit draußen, um es vor Einbruch der Nacht nach Hause zu schaffen. Das heißt, ihr würdet es schaffen, aber ich bin zu langsam und allein findet ihr den Weg nicht. Ihr werdet mit mir kommen und diese Nacht bei mir schlafen müssen. Morgen könnt ihr dann auf der Straße zurück ins Dorf gehen.«
Sie legte den Kopf schief, als sie die Reaktion in den Gesichtern der Kinder sah. »Schaut mich nicht so an, ich habe genauso wenig Lust auf die Gesellschaft von zwei kleinen Blagen, wie ihr darauf habt, bei einer verschrumpelten alten Frau zu übernachten. Aber ich schaffe den Weg zum Dorf im Dunkel nicht mehr. Außerdem bin ich müde und erschöpft, wenn ich den ganzen Tag im Wald war. Ich bin alt, falls es euch entgangen sein sollte. Also, was sagt ihr? Eine Nacht in der Hütte der alten Dedra, mit einem Teller Wurzelsuppe und einem warmen Feuer zum Schlafen oder im Wald verhungern. Ich bin nicht eure Eltern und hab euch nichts zu sagen, ist eure Entscheidung«, meinte sie lächelnd.
Clara nahm wieder die Hand ihres Bruders. Der Mund der Alten sah von so weit unten schrecklich aus, ein schiefes, dunkles Loch mit einigen wenigen Ruinen von Zähnen darin. Aber jedes Kind kannte die alte Dedra und wusste, dass sie den Leuten