„Teenager? Ist das was Besonderes?“
Mit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu
„Das ist etwas ganz Besonderes, Kleines! Jetzt bist du fast erwachsen und von nun an wirst du von Monat zu Monat hübscher werden. Es dauert nicht mehr lange und die Jungs werden uns die Klingel vom Haus reißen!“ Seine Begeisterung war ansteckend. Richard wusste, was Ruth jetzt empfand, wie sehr sie ihre Eltern gerade heute vermisste und ließ sich deshalb allerhand für diesen Tag einfallen, um ihren Geburtstag so angenehm wie möglich zu gestalten. In diesem Moment klappte es.
Sie musste herzhaft lachen. „Also wirklich, du bist der lustigste Onkel, den es gibt!“ und sah ihn keck an „Weißt du, dass meine Freundinnen mich um dich beneiden?“
„Na, das hoffe ich! Aber du weißt ja, dass ich unter ihnen nur dich sehe, meine hübsche Nichte.“
„Ich bin gar nicht hübsch. Mein Körper ist viel zu dünn und meine Hände sind zu lang, mein Gesicht zu blass und meine Haare sind fettig schwarz. Außerdem findest du jede Frau schön.“, stellte sie kritisch fest. Er hob sie auf und wirbelte sie herum. „Natürlich finde ich Frauen schön. Jede Frau hat etwas Besonderes an sich. Egal, ob sie jung oder alt ist. Für mich ist jede Frau eine Prinzessin.“
„Mir wird schwindelig, lass mich runter!“, kreischte sie. Er stellte sie wieder auf den Boden und sah sie ernst an. „Was hältst du davon, wenn wir heute auswärts frühstücken, nur du und ich?“ Ihre Kinderaugen wurden groß „Nur du und ich! So als würdest du mit einer Dame ausgehen? Aber was soll ich denn anziehen?“ Herzhaft lachte er „Ja, wenn du so denkst, wird es wirklich nicht mehr lange dauern, bis du erwachsen bist!“
Nach dem Frühstück, ging er mit ihr in ein Museum, wo er ihr die Bedeutung einiger Gemälde erklärte und sie staunend fragte „Und das sieht man alles in einem Bild?“
Am Nachmittag kamen ihre Freundinnen. Ausgelassen, wie ein kleiner Junge, spielte er mit den Kindern Federball.
„Er ist ein feiner Junge, unser Richard!“ sagte Elisa zu ihrem Mann, dessen Stirn sich in Falten legte, als er zurückgab „Es ist an der Zeit, dass er selbst eine Familie gründen sollte! Findest du nicht?“ Elisa seufzte „Ich glaube, dass er momentan seine Aufgabe darin sieht, sich um Ruth zu kümmern. Wir können froh sein, dass er dieses Jahr bei uns ist!“
Philadelphia 1969
Als Richard eines Tages von einer Europareise zurückkehrte, stellte er mit großer Sorge fest, dass die Seele von Ruth doch mehr Schaden davongetragen hatte, als man vermutete. Sie fand kein Vergnügen daran mit dem Auto zu fahren und zog es vor, im Rücksitz wie angenagelt zu verharren, bis das Ziel erreicht war. Selbst wenn Richard fuhr, war es ein Problem für sie, bis er sie eines Nachmittags vom Handball abholte und sie wieder hinten Platz nehmen wollte. Er überlegte seine Worte gut, bevor er das Thema ansprach, aber hinterher wünschte er sich, den Mund gehalten zu haben. „Es ist gut, Ruth. Es passiert dir nichts. Ich weiß, wie es für dich ist, aber bitte setz dich neben mich, bitte.“ Zögernd folgte sie seinem Drängen und rutschte auf den Beifahrersitz. Sie war die ganze Fahrt über angespannt. An einer Kreuzung bremste er ein wenig schärfer, da hielt sie sich die Hände vors Gesicht und schrie plötzlich gellend „Ich will raus, ich halt das nicht mehr aus. Mir ist kalt, so kalt. Pa, Ma, bitte warum sagt ihr nichts mehr. Ich kann nichts mehr sehen, mich nicht bewegen!“
Sie war so sehr in ihrer Angst gefangen, dass Richard am nächsten Pannenstreifen halt machen musste.
Sie sah nichts mehr, nur mehr einen Abhang, der sich vor ihr auftat und fast körperlich spürte sie wieder die Gewalt der Aufschläge, die das Auto beim Sturz gemacht hatte.
Richard war entsetzt. Sie wurde zunehmend hysterischer. Langsam öffnete er die Wagentür und trug sie einige Meter vom Auto weg. Sie erbrach sich. Ruth war jetzt vierzehn Jahre alt und hatte nichts, wirklich gar nichts verarbeitet. Eine irre Wut auf den Psychologen befiel ihn, den man ihnen empfohlen hatte. Wie wenig diese Leute von ihrem Handwerk verstanden! Er war immer für einen Psychiater gewesen, doch weil dieser Psychologe angeblich bei Kindern große Erfolge aufzuweisen hatte, stimmten die Nelligans zu.
Großmutter Elisa war in der Kirche sehr engagiert. Jeden Donnerstag am Abend versammelte sich in ihrem Haus eine Bibelrunde, geleitet von Pater Andreas. Da die Nelligans reich waren, traten Wohlfahrtsorganisationen und andere Vereine an sie heran. Elisa war durch ihre religiöse Erziehung sehr hilfsbereit und zögerte nicht, als ihr Pfarrer den Wunsch äußerte, in ihrem Haus die Bibelstunden des Vereins „Jesus führt uns“ abzuhalten. Richard sah es nicht gerne, wenn Ruth daran teilnahm. Der alte Mann war ihm suspekt. Er fand, für ein Kind wäre das nicht die richtige Umgebung. Sie soll sich doch mit Gleichaltrigen abgeben und nicht mit alten Menschen um einen runden Tisch sitzen und Gebete murmeln.
„Aber sieh doch wie gut es ihr dabei geht! Sie findet inneren Frieden darin.“, meinte Elisa, doch Richard lief gereizt um den Tisch herum und fuchtelte mit den Armen „Innerer Frieden! Sie soll leben, nicht wie eine Scheintote dahin vegetieren. Ich will, dass sie sich amüsiert.“
„Vielleicht sollte Ruth selbst wissen, was sie tun will. Gerade du, der du so tolerant bist, solltest nicht versuchen, den Willen anderer zu brechen. Deine Sorge mag berechtigt sein oder nicht, es hat eben den Anschein, dass sie gerne mit dem Herrn spricht.“
Er raufte sich seine steifen, braunen Locken
„Mit dem Herrn kann sie sprechen, wenn sie tot ist! Hör zu, Ma, sie ist ein Teenager! Wenn das so weiter geht, wird sie ein Sonderling werden. Willst du das?“ Elisa tätschelte ihrem Sohn die Wange „Lieber Richard, du wirst die Wege des Herrn auch noch begreifen lernen.“ Aufgebracht erwiderte er „Ach, komm mir nicht damit, Ma! Ruth ist seelisch krank und das weißt du. Ihr kann nur ein guter Psychiater helfen.“
Die Gesichtszüge der alten Frau verhärteten sich zu einer in Stein gehauene Heiligenstatue. Er merkte, dass jedes Wort vergeblich war und verließ den Raum.
Gegen religiösen Fanatismus hatte er kein Heilmittel parat und er fürchtete sich davor, dass dieser geistige Virus auf seine Nichte bereits übergegangen war.
Kapitel 4
Philadelphia, Sommer 1975
In den vergangenen Jahren war Richard ständig in Europa gewesen und hatte seine Nichte kaum gesehen. Seit einer Woche war er wieder zurück und bemerkte mit Sorge, wie sie sich entwickelt hatte.
Er sah, wie seine nunmehr achtzehnjährige Nichte, hastig die Treppen herunter eilte. Sie hatte schwarzes, schulterlanges Haar, blaue Augen, volle Lippen und eine tolle Figur, denn sie hatte die langen Beine ihrer Mutter geerbt. Ihre Kleidung ließ zu wünschen übrig, aber für den Anlass - die Bibelrunde - war es eigentlich egal. Richard merkte, dass sie sich überhaupt nicht um ihr Äußeres kümmerte und machte den zaghaften Versuch, dies zu ändern.
„Begleitest du mich morgen in die Stadt?“
„Wozu?“, antwortete sie gehetzt, als sie an ihm vorüber lief.
„Ach, ich habe einfach Lust auszugehen.“
„Gut, wenn du willst, aber jetzt entschuldige mich. Sie warten schon.“ und schon war sie Richtung Kaminzimmer geeilt, wo sich die illustre Gesellschaft schon versammelte.
Er stellte sich vor, wie er ihr eine neue Frisur verpasste, sie schick einkleidete und danach wollte er mit ihr zu einer Freundin gehen, die ihr einige Tipps beim Schminken geben sollte.