Wieder stockte Elektra und presste schließlich die Lippen fest zusammen, so, als wollte sie sich verbieten, die nächsten Worte auszusprechen.
»Doch dann tat ich etwas«, fuhr sie endlich undeutlich flüsternd fort, »das ich glaubte, tun zu müssen, obwohl ich mich dafür vom ersten Moment an gehasst hatte … und auch heute noch schäme.
Viel weniger als Raymonds Andenken wollte ich Henri-Severins Zuspruch und Nähe in diesem Moment verlieren. Ich … ich fühlte mich so unsagbar allein und … einsam. Und er war da. Auch wenn er mich weniger und weniger verstand. Er war aber immer noch so eine Art Brücke zu Raymond. Und bald schon nickte ich nur noch zu all den Bösartigkeiten, die Henri-Severin über seinen Bruder, über seine Familie mit Ausnahme seines Vaters verlor.
Ich spürte, sollte ich ihm widersprechen, würde ich nicht nur seinen Zuspruch, den ich bitter nötig hatte, auch würde ich diese Brücke und am Ende sogar mich selbst verlieren.
Vielleicht klingt das jetzt irgendwie geschwollen, hochtrabend, gar pathetisch, aber so fühlte ich mich damals. Ich war dabei, mich zu verlieren. Und … ich hatte Angst vor der Konsequenz.« Wieder brach Elektra ab. Die Konsequenz, wie sie damals auch immer ausgesehen haben mag, hätte wohl erschreckende Ausmaße gehabt.
Silvana schloss die Augen. Von Frau zu Frau, hallte ihr plötzlich durch den Kopf.
Hatte sie so etwas erwartet? Nein, sicher nicht. Das, was hier vor sich ging, war viel mehr – es war ungeahnt erschreckend.
Und es sollte noch schlimmer kommen.
Nun gänzlich in sich versunken, fuhr Elektra fort: »Das Zusammensein mit Henri-Severin gab mir dennoch auch ein kleinwenig das Gefühl der Sicherheit. Bitterböse erkauft.
Aber dann, beim fünften Treffen, geschah das Entsetzliche … Ich verlor alles.
Zum ersten Mal war ich mit Henri-Severin in sein Appartement gegangen. Wir hatten uns vorher immer irgendwo zum Essen getroffen und dann dort noch lange miteinander gequatscht. Man konnte tatsächlich gut mit ihm quatschen, wenn es nicht um seine Familie ging.
Aber an diesem Abend, ich weiß es noch genau, da wollte ich mehr. Und ich spürte, auch Henri wollte mehr.«
Während sie sich völlig unbedarft in seiner Wohnung umgesehen hatte, spürbar enttäuscht von der Lieblosigkeit, die all die Dinge innehatten, die offensichtlich sein wahres Leben ausgemacht hatten, war er unversehens über sie hergefallen. »Ich wollte ihm noch sagen und zeigen, dass ich es auch wollte, aber es interessierte ihn nicht. Er wollte auch nicht mich, er wollte meinen Körper, schlimmer noch, er wollte meinen Schmerz.«
Wie ein Tier war er über sie gekommen. Böse, brutal und überstark. Sie hatte sich gewehrt, anfänglich, wollte dann nur noch rasch weg. »Aber das machte ihn noch mehr an. Er war einfach zu kräftig.« Ihr Widerstand war dann auch bald gebrochen. Am Ende hatte sie sogar geglaubt, sie hätte es verdient – diese »Strafe«.
Er hatte sie genommen, brutal, immer wieder und nur anal.
»›Ganz sicher hat dieser Schwächling sich nie getraut, dich so zu ficken, stimmt’s? Sag, dass es stimmt‹, hatte er wieder und wieder gebrüllt.« Worte, die Elektra heute kaum wagte zu wiederholen. Sie tat es aber, denn all diese Worte wollten endlich gesprochen und gehört werden.
»Auch schlug er mich dabei. Ich blutete. Im Gesicht. Unten. Überall. Es hat ihn nicht interessiert. Mir war es schließlich auch bald egal gewesen.«
Elektra stockte, und sie zitterte. Die Hände hatte sie in der Zwischenzeit unter ihren Oberschenkeln vergraben und ihr Oberkörper wippte vor und zurück, immer wieder vor und zurück. Und sie wagte nicht, Silvana anzusehen. Auch heute noch schien sie sich dafür zu schämen. Ihr war Leid angetan worden und sie schämte sich dafür. Was für eine grauenvolle und schrecklich verirrte Selbstverachtung.
Sie saßen jetzt beide auf der Couch, nur eine Handbreit voneinander entfernt, Silvana war vor Augenblicken von ihrem Sessel aufgesprungen und zu ihr geeilt, dennoch wusste sie nicht, was sie tun sollte. Eine ungeheuer schändliche Welt in Elektras Erinnerungen wollte jetzt vielleicht keine menschliche Nähe spüren, war sie doch durch die Nähe zu einem Menschen verursacht worden – sie wollte wohl nur ausgesprochen und vernommen werden.
Leise fuhr Elektra schließlich fort: »Ich hatte die ganze Zeit nur gebetet. Nicht um mein Leben, nein, … ›Lieber Gott, lass mich sterben. Jetzt, sofort‹, war mein Gebet gewesen.
Aber ich war nicht gestorben.«
Wieder stockte Elektra und schüttelte den Kopf. Nein, ich war nicht gestorben, schien sie sich zu sagen. Auch hatte es den Anschein, als hätte sie den tiefsten und dunkelsten Grund ihrer Beichte erreicht, denn mit veränderter, beinahe kraftvoller Stimme fuhr sie fort: »Nachdem er mich ein letztes Mal genommen, bestraft hatte, in der Zwischenzeit war es Morgen geworden, warf er mich aus seinem Appartement. ›Solltest du zur Polizei gehen, werde ich alles abstreiten‹, hatte er gesagt. ›Ich habe Freunde, einflussreiche Freunde, die beschwören werden, dass ich letzte Nacht gar nicht in L. A. war.‹
Wie lächerlich er war. Er hatte wirklich geglaubt, im Zweifelsfall damit durchkommen zu können.« Elektra schüttelte den Kopf. »Aber ich hatte nicht vor, zur Polizei zu gehen. Auch sah ich ihn nie wieder.
Doch schlimm ist, ab und an taucht er in einem schrecklichen Traum wieder auf. Ich werde ihn einfach nicht los.«
Vielleicht ja doch. Jetzt! Weil es endlich einmal ausgesprochen ist, dachte Silvana und wünschte es ihr von ganzem Herzen.
Als Elektra dann Monate später von seinem tödlichen Unfall erfahren hatte, hatte sie nichts empfunden. Weder Genugtuung noch Trauer.
»Um Raymonds Vater tut es mir heute noch sehr leid«, sagte Elektra mit wehmütiger Stimme, stand auf und ging zum Fenster. Sie blickte hinaus, die untergehende Sonne konnte sie nicht sehen, dennoch schien die Gewissheit sie innerlich zu beruhigen, auch dieser Tag würde nun bald seine Vollendung finden, wie jeder andere auch.
Schließlich drehte sie sich um und sah Silvana ängstlich an, wobei es eine andere Angst als noch vor Minuten war. Es war die Angst, sich offenbart und verwundbar gemacht zu haben, es war die Angst, für all das Gesagte ausgelacht oder gar weggeworfen werden zu können, es war die Angst vor dem Urteil eines fremden Menschen, dem Urteil, das bewerten, nein, mehr noch, sie hatte Angst vor dem Urteil, das sie abwerten könnte. Als Mensch.
Und schnell sagte sie: »Möchten Sie nicht lieber gehen, Silvana? Ich würde es Ihnen nicht verübeln.«
Was für eine Frage. Nach einer solchen Beichte. Aber vielleicht die einzig legitime Frage einer nackten Seele.
Silvana schüttelte den Kopf. Natürlich würde sie jetzt nicht gehen. Auch vernahm sie mehr und mehr einen bitteren Schmerz, ausgelöst durch all die schrecklichen Erlebnisse dieser Frau, der ihr direkt in die Seele drang. Von Frau zu Frau, nein, von Seele zu Seele schien jetzt angebrachter. Vor Minuten noch gänzlich unvorstellbar.
Obwohl Silvana nicht gehen wollte, auch nicht gehen konnte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die junge Frau, die noch immer verzagt, ängstlich und mit hängenden Schultern am Fenster stand, in den Arm genommen. Aber das schien ihr dann doch unangemessen.
Stattdessen sagte sie, auch weil sie spürte, dass Elektra mit all dem, was in ihr rumorte, wohl noch nicht gänzlich am Ende angelangt war: »Wollen wir nicht rausgehen, ein wenig durch die Stadt laufen und dann irgendwo einen Kaffee trinken? Im Laufen erzählt sich vieles sehr viel leichter. Zumindest ist das bei mir so.«
Elektra sah Silvana lange und aus tiefer Seele an, schüttelte nachdenklich den Kopf und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Schließlich sagte sie: »Wer sind Sie, Silvana? Ein Engel?«
Silvana stand auf