Parasit. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188973
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Bilder des Verstorbenen zwischen all den Blumen.

      William Backer war in den besten Jahren gewesen. Mitte Vierzig, als ihm ein tödlicher Herzinfarkt auf dem Laufband aus dem Leben riss. So stand es zumindest im Obduktionsbericht. Woran er jedoch wirklich gestorben war, war unentdeckt geblieben. Der Grund seines frühen Todes, war ebenso der Grund, warum Jake hierher gekommen war.

      Er warf die Axt in eine Ecke, wo sie einen Stuhl polternd umriss. Dann stürmte er auf den Sarg zu.

      Seine Finger zitterten begierig, als er sich an den Ösen zu schaffen machte. Schließlich gelang es ihm den Deckel aufzuklappen.

      Dann begann er zu sprechen, aber nicht zu Richie, sondern zu dem Leichnam.

      „Oh Herr, nimm von mir! Ernähre dich von mir! Viel zu lang dauerte dein Hunger. Du hast nach mir gerufen. Ich bin hier.“

      Und der Leichnam öffnete die Augen.

      Sie waren gelb, mit feinen roten Äderchen durchlaufen und hatten kleine, schwarze Linsen, die suchend die Umgebung abtasteten. Das war zuviel für Richie, der bis eben nur stocksteif und stumm Jakes Treiben zugesehen hatte. Das ging weit über einen schlechten Scherz hinaus. Er drehte sich um und lief schreiend davon.

      Jake war das einerlei. Er war jetzt im Banne dieser Kreatur, die dem verstorbenen William Backer nur noch wenig ähnelte. Das Gesicht war eine verschobene Fratze, die Lippen dünn und blutig, die Zähne schwarz, die Fingernägel gelb und lang. Kein Vergleich zu dem gepflegten Mann auf den Fotos.

      Jake war weit davon entfernt, dies zu bemerken. Er fingerte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und schnitzte sich die Handflächen auf. Da es stumpf war brauchte er mehrere Versuche dazu, bis er seine Hände zu dem faltigen Mund führen konnte.

      Es trank gierig, wollte jedoch mehr. Also schlitzte es mit seinen langen, scharfen Fingernägeln Jakes Pulsadern auf. Das feuchte schmatzen breitete sich in der Halle aus.

      Richie rannte als wäre der Teufel hinter ihm her. Sein Schweiß lief in Strömen. Er brannte auf seiner Haut, obwohl er sie eigentlich kühlen sollte. Auch in die Augen lief er, wo das Salz höllisch brannte. Ihn quälte heftiges Seitenstechen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Atem ging rasselnd und pfeifend.

      Er rannte so schnell, dass er über seine eigenen Beine stolperte und kopfüber hinfiel. Der feine Sand riss seine Haut auf und verstärkte das brennen noch. Ein heftiges Zittern breitete sich in ihm aus. Er wurde sich vage bewusst, dass das nicht real gewesen ist, nicht real gewesen sein kann.

      „Heilige Scheiße, was war das denn eben?“ Allmählich wich seiner Angst der Überzeugung, dass er verarscht wurden war. „Ja, so muss es gewesen sein. Jake und ein Freund wollen mich verarschen. Diese Penner. Anders kann es nicht gewesen sein. Bestimmt sitzen sie gerade zusammen und amüsieren sich auf meine Kosten.

      Ja, so musste es gewesen sein“, wiederholte er noch einmal für sich. Dann stand er auf, klopfte sich den Schmutz von der Hose, begutachtete die Schürfwunden an Handflächen und Ellenbogen und machte sich eilig davon. Er verschwendete keinen Gedanken an Jake. Und als er den Friedhof verlassen hatte, er hinaus auf die dunkle Straße getreten war, war Jake und sogar das eben geschehene nur noch eine verschwommene, schwache Erinnerung, als läge es Jahrzehnte in der Vergangenheit

      Als er einige Stunden später erwachte, mittlerweile war es heller Tag, war von der verschwommenen, schwachen Erinnerung nichts mehr übrig. Es war völlig in Vergessenheit geraten.

      Richie verbrachte den Tag ohne irgendwelche sonderbaren Ereignisse, bestellte sein Essen beim Chinesen um die Ecke, zockte seine Konsole heiß und ging, als es abends wurde, in ihre Stammkneipe. Dort saß er allein, trank Bier, rauchte Zigaretten und starrte trübsinnig die Wand an. Nein, Jake wird wohl heute nicht mehr kommen, überlegte er.

      Erst nach Stunden machte er sich wieder auf den Heimweg.

      Ein stürmischer Wind blies ihm die faden Gerüche der Nacht entgegen. Feiner, kalter Nieselregen spritzte ihm ins Gesicht. Der Regen störte ihn nicht besonders, aber der Wind griff ihn genau von vorn an und verlangsamte seinen Schritt. Mit nach vorn geneigten Körper und gesenktem Kopf stemmte er sich gegen ihn. Er sah nicht die Gestalt, die langsam auf ihn zuschwebte. Aber er spürte einen gewaltigen Schlag, dann flog er in die Büsche am Wegesrand. Sein Panikschrei hallte laut durch die Nacht, doch das nutzte ihm schon nichts mehr.

      Im Licht der umliegenden Straßenlaternen erkannte er die Kreatur wieder. Die Kreatur, die er im Sarg liegen gesehen hatte. Und da fielen ihm auch die Geschehnisse der letzten Nacht wieder ein, während er noch um einiges lauter schrie.

      Es handelte sich ganz eindeutig um diese Kreatur, obwohl es auch etwas anders aussah. Irgendwie jünger, frischer, genährter, kraftvoller.

      Richie hing immer noch halb in den Büschen. Er war außerstande so viel Kraft aufzubringen und aufzustehen. Harte Äste drückten in seinem Rücken. Auch das nahm er kaum war. Sein Blick war in das Gesicht der Kreatur regelrecht versunken. Und es sah ihn an, mit beinahe freundlich wirkenden Augen. Dann sprach es zu ihm, mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte und sehr dumpf klang. „Richie, ich liebe dich. Sei mir zu Diensten! Sei mein Sklave und du wirst es nicht bereuen!“ Sie klang blubbernd, sabbernd, kreischend und doch irgendwie auch angenehm und beruhigend.

      Richie schrie immer noch aus Leibeskräften, doch das registrierte er schon lange nicht mehr. Sein Verstand hatte sich bereits von ihm gelöst – war in tausend Teile gesprungen. Er war jetzt der Diener seines neuen Herren, ein Diener der Kreatur.

      Er erwachte schweißgebadet in seinem Bett und eine Stimme dröhnte fordernd in seinem Kopf, „diene mir, diene mir, diene mir!“ Dieser Stimme konnte er sich nicht entziehen. Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken und an den Beinen hinunter. Ihm war eiskalt. Er hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuten sollten. Krampfhaft versuchte er sich an seinen Traum zu erinnern, musste jedoch enttäuscht feststellen, dass ihm das nur bruchstückhaft gelang. So etwas wie, das er willenstark sei und die nötigen Kräfte besäße, die für seine Pläne – wessen Pläne, gebraucht wurden. Das er, wenn alles zu seiner Zufriedenheit verläuft – wessen Zufriedenheit, reich für seine Dienste belohnt wird. Das alles war jedoch nur zusammenhangloses, wirres Zeug, mit dem er nichts anfangen konnte. Sein Kopf dröhnte schon, er musste sich ein Aspirin holen.

      Auf wackligen Beinen stolperte er gleich wieder ins Bett. Kurz bevor der Schlaf ihn erneut übermannte, klang noch einmal die Stimme tief ein seinem Kopf. „Morgen beginnt deine ehrenvolle Aufgabe“, dann versank Richie in einen unruhigen, leichten aber traumlosen Schlaf.

      Erst viele Stunden später erwachte er. Sein Kopf brummte, wie von zuviel Alkohol. Doch er glaubte nicht, dass es davon kam. Irgendetwas hatte sich verändert, er konnte jedoch nicht definieren, was es war. Die Sonnenstrahlen brannten auf seiner Haut, der Tag war geräuschvoller. Aber er hörte es nicht nur mit den Ohren, sondern fühlte es in seinem Kopf. Jede noch so kleine Erschütterung spürte er bis in seine Eingeweide hinein. Die Sinne schienen abnormal gesteigert zu sein.

      Als er aufstand, drehte sich alles in seinem Kopf und ihm wurde schwindelig. Benommen und schwach fiel er aufs Bett, zog die Decke über den Kopf und lag einfach nur da.

      Bis weit nach Sonnenuntergang lag er so da.

      Obwohl er ziemlich sicher war, nicht mehr geschlafen zu haben, fühlte er sich frisch und ausgeruht. Genau genommen konnte er sich an kein vorheriges Nickerchen erinnern, welches erholsamer gewesen wäre. Ihm fehlte auch jeglicher Appetit auf Bier, Zigaretten und was man sonst so zum Überleben braucht.

      Etwas, das sich tief in seinem Kopf befand, drängte ihn das Haus zu verlassen. Er tat es augenblicklich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.

      Seine Schritte führten ihn geradewegs in den Stadtpark, obwohl er ihn für gewöhnlich nicht besuchte. Er fragte sich, warum er ausgerechnet dorthin ging. Seine Füße schienen die Antwort zu kennen. Sie trieben ihn zielsicher voran, so als gehören sie zu jemand anderem.

      Im Stadtpark angekommen, ging er zum unbeleuchteten Abschnitt, in dem sich nachts nur Junkies und Huren rum trieben, setzte sich dort unter einen